WIEN – Die österreichische Innenpolitik kommt nicht zur Ruhe. Die anstehende Bundespräsidentschaftswahl sowie die Landtagswahlen in Niederösterreich und Tirol bergen möglicherweise erneutes Sprengpotential.
Rückblende, September 2019
Die ÖVP unter Sebastian Kurz kann bei der Nationalratswahl nochmals deutlich zulegen und erreicht mit 37,5 Prozent ihr bestes Ergebnis seit 2002. Dem war das Zerbrechen einer Koalition mit der FPÖ vorausgegangen, doch nun war Kurz stärker als zuvor. In Folge bildete er eine Regierung aus ÖVP und Grünen, ein vielbeachtetes Experiment, das zunächst auch gut ankam.
Nicht ganz drei Jahre später ist die ÖVP auf rund 21 Prozent in Umfragen zurückgefallen. Kanzler ist mittlerweile, nach einem Intermezzo mit Alexander Schallenberg, Karl Nehammer. Neuwahlen werden von Opposition und Teilen der Öffentlichkeit immer wieder gefordert, scheinen derzeit aber nicht in Griffweite. Was ist los in der Alpenrepublik?
Krise der ÖVP
Kein Zweifel: Die ÖVP steckt in einer schweren Krise. Neben dem Umfragetief sind es diverse vermeintliche Korruptionsskandale, die der Kanzlerpartei schaden. Hierbei geht es um die Vergabe von Aufsichtsratsposten in staatlichen und staatsnahen Betrieben sowie um den Vorwurf der Bereicherung von PR-Beratern und Werbeagenturen, wobei jeweils Günstlinge der Truppe um Kurz zum Zuge gekommen sein sollen. Belastbares hat sich hier noch kaum ergeben, zumal die Besetzung von Aufsichtsräten mit nahestehenden Personen in Österreich, bei aller Kritik daran, jahrzehntelang geübte Praxis war und ist. Eine Recherche der Plattform Addendum zeigt, dass ein Anstieg der Anzahl einer Partei zurechenbarer Manager immer mit einem Wechsel im Kanzleramt einherging.
Dennoch: Die ständige öffentliche Kritik ist zermürbend, die Stimmung unter Funktionären ist depressiv. Sollte es bei den Landtagswahlen in Tirol und Niederösterreich herbe Niederlagen setzen, könnte Nehammers Sessel wackeln. Als mögliche Nachfolger werden Europaministerin Karoline Edtstadler oder, neuerdings, Finanzminister Magnus Brunner gehandelt. Lichtblick für die ÖVP ist Martin Kocher, der im Vorjahr das Arbeitsministerium übernahm und nun, nach der jüngsten Rochade, dieses mit dem Wirtschaftsressort fusioniert führt. Der habilitierte Ökonom gilt als Hort der Sachlichkeit, genießt hohes Vertrauen und erzielt zählbare Erfolge.
Unklare Verhältnisse bei Rot und Blau
Die Schwäche der ÖVP führt zur Stärke der SPÖ, die derzeit gemäß Umfragen mit knapp 30 Prozent eine Wahl gewinnen könnte. Allerdings ist bei den Genossen verdächtige Ruhe zu vernehmen. Parteichefin Pamela Rendi-Wagner tritt weniger in Erscheinung als ihr Vorgänger, Alt-Bundeskanzler Christian Kern. Der gibt viele Interviews und bastelt am Image des „Hättet ihr doch nur auf mich gehört“-Elder Statesman, will aber angeblich nicht zurück in die Politik. Die SPÖ muss derzeit nur abwarten – in der derzeitigen Lage mit Inflation und steigenden Energiepreisen muss es ihr angenehm sein, dass sich andere an diesen Problemen die Zähne ausbeißen.
Die FPÖ, zu Jahresbeginn im Aufwind, ist mit Selbstzerfleischung befasst. Parteichef Herbert Kickl ist parteiintern umstritten und wird den Ruf nicht los, selbst nur mangels Alternativen im Amt zu sein. Die Partei ist gespalten und kann sich nicht einigen, ob sie staatstragend-regierungsfähig oder rabaukenhaft-populistisch sein will. Kickl soll, so ein Vorwurf, einen mittlerweile suspendierten Fraktionsmitarbeiter zur Materialsammlung für Strafanzeigen gegen innerparteiliche Gegner angestiftet haben, um sich derer zu entledigen. Der Mitarbeiter soll in Folge einen Selbstmordversuch unternommen haben. Kickl ist innerparteilich schwer angeschlagen und der Höhenflug seiner Partei ist, zumindest vorläufig, unterbrochen.
Pink und Grün – die „Kleinen“ in Warteposition
Begrenzt bequem haben es derzeit die Grünen. Sie liegen in Umfragen bei etwa zehn Prozent, was kein Debakel wäre, aber auch keinen Anlass zum Jubel gibt. Die grüne Regierungsmannschaft zieht ihr Programm durch – einerseits durch Justizministerin Alma Zadic ein Umbau der Justiz nach linken Vorstellungen (hier geht es etwa um Postenbesetzungen und Strukturen), andrerseits im mächtigen Verkehrs- und Klimaministerium unter Leonore Gewessler, einer langjährigen Global 2000-Aktivistin, der Versuch, grüne Leuchtturmprojekte zu schaffen.
Im relativen Höhenflug befindet sich die jüngste Nationalratsfraktion, Neos. Sie profitiert von der Schwäche der ÖVP und positioniert sich als Aufdeckerpartei. Zudem hat man den Einzug in diverse Landesregierungen geschafft, zuletzt und besonders prestigeträchtig in der Bundeshauptstadt Wien. Dort ist man in einer Koalition mit der SPÖ, während man in Salzburg mit der ÖVP regiert. Auch die Neos liegen derzeit bei etwa 10 Prozent.
Wie geht es weiter?
Ende September wählt Tirol, im Winter (Termin noch nicht fixiert) Niederösterreich. In beiden Ländern dürfte die ÖVP wohl Platz eins halten können, die Verluste könnten aber schmerzlich ausfallen. Zudem dürfte jeweils, wie schon im Vorjahr in Oberösterreich, die Impfgegnerpartei MFG Mandate erhalten. Zudem wählt Österreich am 9. Oktober einen neuen Bundespräsidenten. Amtsinhaber Alexander van der Bellen, einst Grüner Parteichef, führt in allem Umfragen klar (58 bis 66 Prozent). Dass die ÖVP keinen eigenen Kandidaten aufstellt, wird als Zeichen der Schwäche gesehen.
Zerbricht die Koalition?
Dafür gibt es keine Anzeichen. Beide Koalitionspartner sind vom Kampf gegen die Covid-Pandemie auch in der Wählergunst abgestraft, die wirtschaftlichen Herausforderungen tun das ihre dazu. Regulär muss erst im Herbst 2024 gewählt werden. Beide Parteien würden derzeit massiv Stimmen und Mandate einbüßen. Dass die bestehende Koalition weitergeführt werden könnte, darf als ausgeschlossen gelten. Zwar könnten die Grünen sich in einer linken Koalition mit SPÖ und Neos wieder in Regierungsverantwortung hieven, doch würden sie an Einfluss verlieren. Die ÖVP hat keine Veranlassung, ihr wesentlich höheres Risiko abzutesten. Vorläufig bleibt an der Donau also alles beim Alten – auch wenn die Nervosität steigt und das Klima denkbar rau ist. Die Hoffnung, dass im Jahr 2023 bessere Wirtschaftsdaten auch einen Umschwung in der Stimmung und damit der Wählergunst bringt, hält die Koalition am Laufen. Wie lange das gutgeht, ist eine andere Frage.
Bildquelle:
- Fahne_Österreich: pixabay