„Würfeln Sie die Zahlen aus?“, Fernab der Lebenswirklichkeit“: Hitziger Schlagabtausch im Bundestag und wachsender Widerstand

von KLAUS KELLE

BERLIN – Sie haben es nochmal durchgebracht. Der Bundestag hat heute einer bundeseinheitlichen „Notbremse“ zur Eindämung der Corona-Pandemie zugestimmt. Mit der beschlossenen Änderung des Infektionsschutzgesetzes sind Ausgangsbeschränkungen ab 22 Uhr ebenso möglich wie weitreichende weitere Schritte zur Vermeidung von Kontakten bis hin in den eigenen Wohnraum.

In namentlicher Abstimmung folgten 342 Abgeordnete dem Gesetzentwurf der Regierung. 250 stimmten mit Nein, darunter AfD, FDP und Linke geschlossen, die Grünen enthielten sich bis auf eine Gegenstimme. Bemerkenswert: Unter den zahlreichen Nein-Stimmen waren auch 21 Abgeordnete von CDU und CSU, darunter die beiden Sprecher des konservativen Beriner Kreises, Sylvia Pantel und Klaus-Peter Willsch. Der hatte in einer ausführlichen Stellungnahme begründet, warum er dem Vorschlag der eigenen Regierung nicht folgen werde. Bisher habe er „alle Entscheidungen und Maßnahmen im Zuge der Pandemiebekämpfung mitgetragen und auch in der Regel offensiv nach außen vertreten“ sagte er. Und weiter:

„Mit dem Bevölkerungsschutzgesetz ist für mich das Maß des noch Erträglichen aber erreicht bzw. überschritten.“

Kontrollen der privaten Wohnung und großflächige Ausgangssperren werde er keine Zustimmung geben. Willsch plädiert sogar für Öffnungen: „Warum sollen wir Open-Air-Ausstellungen, Freiluftkino, Besuch im Freizeitpark oder Musikveranstaltungen draußen verbieten, wenn doch mittlerweile sehr klar ist, dass die Ansteckungsgefahr an der frischen Luft gegen null geht?… (…) Diese Maßnahmen sind fernab der Lebenswirklichkeit im Frühjahr bei teilweise 20 Grad draußen.“

Bereits am Vormittag hatten in Berlin 8.000 Bürger gegen schärfere Corona-Maßnahmen demonstriert. Dabei kam es zu mehr als 152 festnehmen, weil Teilnehmer keine Schutzmasken tragen wollten und Widerstand gegen Polizeibeamte leisteten.

Im Plenum des Parlaments lieferten sich Regierung und Opposition derweil einen heftigen Schlagabtausch. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warben um Zustimmung zu ihrem Gesetzentwurf. Spahn sagte: «Die Lage ist ernst, sehr ernst.» 5000 Menschen lägen derzeit mit Covid-19 auf Intensivstationen: «Tendenz weiter steigend, bei sinkendem Alter der Patienten.» Zwei Drittel aller Ausbrüche fänden derzeit im privaten Bereich statt.

AfD-Fraktionschef Alexander Gauland sprach dagegen von einem «Angriff auf die Freiheitsrechte, den Föderalismus wie den gesunden Menschenverstand». Die Regierung habe in der Impfstoffbeschaffung versagt und versuche nun, die Opposition durch moralischen Druck zur Zustimmung zu bewegen. Kritiker würden nicht ernst genommen. «Sie können nicht das halbe Volk zu Querulanten machen», sagte er mit Verweis auf die Menschen, die zeitgleich auf Berlins Straßen gegen die Corona-Politik demonstrierten.

Die FDP bekräftigte ihre Drohung, gegen Ausgangsbeschränkungen Verfassungsbeschwerde einzulegen. Diese seien «keine geeigneten Maßnahmen», sagte Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus. «Sie schränken nur in unzulässiger Weise die Grundrechte ein und treiben die Menschen in den privaten Bereich.» Die Alternativen zur «Bundes-Notbremse» seien gesteigertes Impfen und Testen sowie eine bessere Aufklärung über Kontaktvermeidung.

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus bekannte, dass er für ein härteres und schärferes Gesetz sei, aber nun sei es wichtig, den gefundenen Kompromiss durchzusetzen. Brinkhaus wörtlich: «Dieses Gesetz ist ein Gesetz fürs Leben.» Der CDU-Politiker räumte immerhin ein, dass die Einschränkungen vielen Händlern schwer zu schaffen machen. Aber: «Ich denke an die Menschen, die sterben.» Er hätte ein härteres und schärferes Gesetz bevorzugt, aber nun sei es wichtig, den Kompromiss zu verabschieden.

Linke-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali nahm das auf und sagte: «Ja, es geht um Leben und Tod.» Das Pandemiegeschehen müsse dringend eingedämmt werden. Die Bundesregierung versuche aber, Grundrechte «praktisch im Vorbeigehen» einzuschränken und ihre Befugnisse auszuweiten. Unverhältnismäßig sei, dass ab einem Inzidenzwert 100 Ausgangssperren kommen sollten, Kinder aber bis zu einem Wert von 165 zur Schule gehen. «Woher haben Sie eigentlich diese Zahlen? Würfeln Sie die aus?»

Die fraktionslose Abgeordnete Frauke Petry, früher Vorsitzende der AfD, antwortete dem Unionsfraktionschef mit deutlichen Worten: „Herr Brinkhaus, dies ist kein Gesetz für das Leben, dies ist die Fortsetzung einer chaotischen Regierungsführung seit über einem Jahr!“

Die neuen Vorschriften können frühestens ab Samstag greifen, weil erst noch am Donnerstag der Bundesrat zustimmen muss. Zudem muss Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Gesetz auch noch unterzeichnen, und es muss noch formell verkündet werden. Die beschlossenen Maßnahmen sind bis 30. Juni befristet. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass spätestens dann die Pandemie durch die Impfungen stark zurückgedrängt ist.

Bildquelle:

  • Bundestag_Plenum: bundesregierung.de

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Über den Autor

Klaus Kelle
Klaus Kelle, Jahrgang 1959, gehört laut Focus-online zu den „meinungsstärksten Konservativen in Deutschland“. Der gelernte Journalist ist jedoch kein Freund von Schubladen, sieht sich in manchen Themen eher als in der Wolle gefärbten Liberalen, dem vor allem die Unantastbarkeit der freien Meinungsäußerung und ein Zurückdrängen des Staates aus dem Alltag der Deutschen am Herzen liegt. Kelle absolvierte seine Ausbildung zum Redakteur beim „Westfalen-Blatt“ in Bielefeld. Seine inzwischen 30-jährige Karriere führte ihn zu Stationen wie den Medienhäusern Gruner & Jahr, Holtzbrinck, Schibsted (Norwegen) und Axel Springer. Seit 2007 arbeitet er als Medienunternehmer und Publizist und schreibt Beiträge für vielgelesene Zeitungen und Internet-Blogs.