BERLIN – In der Debatte in der SPD um den gesellschaftlichen Kurs gegenüber sexuellen und anderen Minderheiten erlebt der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse nach eigenen Worten «überwältigende Zustimmung». Zugleich bekräftigte er seine Kritik an der Gesprächs- und Debattenkultur einer sogenannten Identitätspolitik, weil diese nicht auf Versöhnung und konkrete Fortschritte ziele.
Auch die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Gesine Schwan sparte nicht mit Kritik. Sie sagte an die Adresse der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und des Parteivize Kevin Kühnert: «Ich möchte den beiden zeigen: So geht’s nicht. Das war ein Fehler, den ihr da gemacht habt», sagte sie der Wochenzeitung «Der Spiegel» (Sonntag). Sie halte «diese kollektiven Identitäten für die Pest».
Vergangene Woche hatte der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in einem Gastbeitrag für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» «linke Identitätspolitik» kritisiert. Es mache sich eine Haltung breit, Diskussionen zu verweigern. Daraufhin war eine hitzige Debatte in den sozialen Medien hochgekocht.
Vorläufiger Höhepunkt war ein Schreiben Thierses an die SPD-Spitze, in dem der frühere DDR-Bürgerrechtler Zweifel geäußert hatte, ob sein Bleiben in der Partei weiterhin wünschenswert sei, wenn sich zwei Mitglieder der Parteiführung von ihm distanzierten. Dies war eine Anspielung darauf, dass Esken und Kühnert zuvor «Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD» zur Identitätspolitik kritisiert hatten.
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz erinnerte in der ZDF-Sendung «Berlin direkt» am Sonntagabend an Thierses Leistungen: «Wolfgang Thierse hat sich große Verdienste um die SPD, um unsere Land, um die Deutsche Einheit erworben. Er ist jemand, an dem wir noch ganz lange viel Freude in der SPD haben werden.»
Thierse machte im Magazin «Cicero» am Samstag deutlich, dass eine öffentliche Distanzierung Eskens und Kühnerts nur ihm gegolten habe könne, da sich sonst aktuell niemand aus der Partei öffentlich zu den Fragen geäußert habe. Die Kritik sei zudem «unangemessen». «Ich kann mich seit der Veröffentlichung dieses Essays kaum vor E-Mails retten. Ich hab zwischen 500 und 1000 Mails bekommen – neben dem Shitstorm. Es war eine überwältigende Zustimmung, nicht nur aus der eigenen Partei», so Thierse.
Als linker Ostdeutscher könne er seine Lebensgeschichte ebenfalls als eine Folge von Minderheitserfahrungen beschreiben, sagte er dem «Spiegel». «Mit denen muss man umgehen lernen, und nicht nur leidend und klagend. Da wird man klein und hässlich und bringt nichts zustande.»
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- Wolfgang Thierse: dpa