Wie Jogi Löw der Europameister aller Europameister werden kann

Alle da: Joachim Löw hat mit allen 26 Spielern das erste Training im Turnierquartier in Herzogenaurach bestreiten können. Foto: Federico Gambarini/dpa

von RALF GRENGEL

BERLIN – „Wer Europameister werden will, muss jeden schlagen“. Diese Fußballweisheit ist derzeit wieder in aller Munde. Sie stimmt aber nicht. Wäre auch ein bisschen zu viel vom neunen Titelträger verlangt – immerhin sind bei der heute beginnenden Kontinentalmeisterschaft für europäische Nationalmannschaften insgesamt 24 Teams am Start. Der Turniermodus bringt es mit sich, dass man sogar nur vier von sieben Gegnern schlagen muss, wenn man als Kapitän des neuen Europameisters am 11. Juli 2021 den 60 Zentimeter großen und acht Kilo schweren Henri-Delaunay-Pokal in den Londoner Nachthimmel recken möchte.

Bestes Beispiel für die „Vier-aus-sieben-Taktik“ ist der diesjährige Titelverteidiger Portugal. Die Mannen um Superstar Christiano Ronaldo murmelten sich 2016 als Minimalisten mit drei Unterschieden durch die Vorrunde, zogen aufgrund ihrer ausgeglichenen Tordifferenz als einer der vier besten Gruppendritten ins Achtelfinale ein und begannen erst in der K.o-Runde damit, Spiele zu gewinnen. Gerade noch rechtzeitig, um am Ende erstmals den Pott, der nach dem früheren Generalsekretär der UEFA und dem Erfinder der EM benannt ist, mit nach Hause zu nehmen.

Konkretisieren wir die eingangs zitierte Fußballweisheit also wie folgt: „Wer Europameister werden will, muss in der K.o-Runde jeden Gegner schlagen.“ Doch auch die will erstmal erreicht werden, wenn man in der Vorrunde einen Platz in der sogenannten „Todesgruppe“ erwischt hat. Die amtierenden Welt- und Europameister als Gegner sind schon mal eine Ansage. Wenn sich dann zu Frankreich und Portugal noch Deutschland dazugesellt, kann es durchaus ungemütlich werden. Für den vierten im Bunde, Außenseiter Ungarn, auf jeden Fall. Aber auch die Verantwortlichen des verbleibenden Trios werden nach der Auslosung durch den deutschen WM-Kapitän 2014 Philipp Lahm keine Jubelfaust geballt haben. Erst recht nicht, wenn sie sich im Anschluss an die Veröffentlichung des Spielplans den Weg zum Endspiel ins Londoner Wembley Stadium angeschaut haben.

„Bloß nicht Gruppenzweiter werden“, könnte die Devise lauten, beim Blick auf die dann wohl kommenden Gegner. Denn setzen sich in der Gruppenphase die Favoriten durch, warten als Tabellenzweiter der Gruppe F im ersten K.o.-Spiel die Hochgeschwindigkeitskicker aus England. Jadon Sancho vom BVB hat in der abgelaufenen Saison schon in der Bundesliga und Champions League so manchen Verteidiger schwindelig gespielt, ehe er selbst getroffen oder perfekt vorbereitet hat. Sein Abnehmer im Sturmzentrum heißt bei der EM zwar nicht Erling Haaland, sondern Harry Kane. Das macht die Sache aber nicht gerade entspannter. Und wer den gesamten Kader der „Three Lions“ inspiziert, entdeckt mit Jude Bellingham nicht nur einen weiteren Hochbegabten des BVB, sondern auch gleich sieben auf einen Streich, die im diesjährigen Champions-League-Finale für Cupgewinner Chelsea oder den Finalisten ManCity auf dem Platz standen. Klingt nicht gerade nach einem Spaziergang ins Viertelfinale. Außer für die Deutschen. Denn für die Engländer hat es bei einer EM noch immer gereicht. Spätestens im Elfmeterschießen!

„Wir wollen unbedingt so weit wie möglich kommen“, hat Bundestrainer Joachim Löw vor seinem letzten Turnier als Devise ausgegeben. Heißt, bis ins Finale. Noch weiter zu kommen ist schlicht unmöglich, bis dorthin zu kommen verdammt schwierig. Vor allem angesichts des nächsten Brockens, der sich Kapitän Neuer, Rückkehrer Hummels und Müller, dem laut Löw „unverzichtbaren“ Kroos samt seines Co-Strategen Gündogan, Antreiber Kimmich sowie den Champions-League-Siegern Rüdiger, Werner und Havertz in den Weg stellen kann. Wobei es abzuwarten gilt, ob die zwei Letztgenannten von Europas bester Vereinsmannschaft 2021, dem FC Chelsea, überhaupt gut genug sind, es in die erste Elf des Weltranglistenzwölften der Nationalmannschaften zu schaffen.

Die interne Konkurrenz ist groß. Deutschlands einstiger und bis dato einziger Weltfußballer, Lothar Matthäus, der sich über die Jahre den Rang als TV-Experte Nummer 1 verdient hat, würde gar auf Kroos und Gündogan verzichten und stattdessen auf ein eingespieltes Mittelfeld des FC Bayern setzen. Kimmich, Goretzka, Müller. Dazu Neuer im Tor. Gnabry und Sané im Sturm? Mit einem halben Dutzend Bayern zum EM-Triumph? 1972 lässt schön grüßen. Beim ersten EM-Titel Deutschlands war ein solcher Bayernblock die Basis des Erfolgs. Damals wäre es undenkbar gewesen, dass auf die Nationalmannschaft mit Maier, Beckenbauer und Müller in den K.o.-Spielen ein Gegner warten könnte, von dem man kurz zuvor noch mit 0:6 verprügelt worden war. Eine Abwehr mit den Eisenfüßen Vogts, Höttges und Schwarzenbeck derart demütigen? Unvorstellbar!

Fast 50 Jahre später ist alles denkbar. Auch, dass die Deutschen im Viertelfinale auf jenen Gegner treffen, der sie am 17. November 2020 bis auf die Knochen blamierte und ihnen dabei die höchste Niederlage seit 1931 zufügte. 0:6 am letzten Spieltag der Nations League – in Sevilla, gegen Spanien. Sofern Löw und seine Jungs also schon im Viertelfinale unbedingt nach Revanche für diese Schmach gieren, sollten sie tunlichst Gruppenzweiter werden. Denn dann geht’s in der Runde der besten Acht eben gegen diese Spanier! Immer vorausgesetzt, die jeweiligen Gruppenfavoriten setzen sich durch. Um das Favoritennetz weiter zu spinnen, würden im Halbfinale die Niederlande und im Finale wohl Italien warten, seit schlappen 27 Länderspielen unbesiegt.

Fazit: Jogi Löw kann mit Deutschland bei der Euro 2020, die aufgrund der Pandemie erst 2021 ausgetragen wird, der Europameister aller Europameister werden. Denn nie zuvor hat es einen Titelträger gegeben, der während eines Turniers hintereinander gegen Frankreich, Portugal, England, Spanien, Niederlande und Italien bestehen musste! Wenn Löw das gelingt, sind die Jahre zwischen dem WM-Titel 2014 und dem EM-Titel 2021 vergeben und vergessen. All die Pleiten und Pannen. Einfach gelöscht, so als hätte es sie nie gegeben. Dazu muss er lediglich Gruppenzweiter werden und eine alte Fußballweisheit beherzigen: „Wer Europameister werden will, muss in der K.o-Runde jeden Gegner schlagen.“

Bildquelle:

  • Erstes Training: dpa

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