Was passiert am 9. Mai auf dem Roten Platz?

Liebe Leserinnen und Leser,

je näher der 9. Mai rückt, desto unruhiger werden politische Interessierte. Ich bin derzeit in Süddeutschland, vornehmlich Bayern, unterwegs, und wo immer ich mit Freunden zusammensitze kommen wir unweigerlich nach wenigen Minuten auf den Krieg in der Ukraine.

Wie ist die aktuelle Lage, kurz bevor der Präsident der Russischen Föderation am Montag auf dem Roten Platz seine traditionelle Rede zum Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland hält?

Die wichtigste Frage: Wird er den Einsatz taktischer Atomwaffen ankündigen? Und wenn er den nicht ankündigt, wird er trotzdem in den Tagen danach den Befehl zum Einsatz geben? Wenn Sie mich fragen: Er wird es nicht tun.

Aber ich weiß es natürlich nicht. Viele haben auch nicht geglaubt, dass er seine Armee Ende Februar wirklich das Nachbarland überfallen lassen wird. Ich allerdings schon, denn ich habe mir schon vor vielen Jahren angewöhnt, Zusicherungen aus Moskau grundsätzlich mit Misstrauen zu begegnen, konkret: solchen Zusicherungen grundsätzlich erst einmal nicht zu vertrauen.

Betrachten wir also die aktuelle Lage genau.

Sowohl Russland als auch die Ukraine verzeichnen seit einigen Tagen kaum noch Geländegewinne. Man könnte das als eine Schlappe für den Kreml ansehen, könnte Putin in die Enge getrieben sehen. Und er muss ja seinen Leuten irgendwas erzählen am 9. Mai auf dem Roten Platz, landesweit auf allen Kanälen in die Haushalte der Russen übertragen.

Wir haben einen großen Teil von Mariupol fast eingenommen, das ist wohl nicht das, was seine Bürger von ihrem Präsidenten erwarten. Könnte bedeuten, wenn er selbst politisch überleben will, muss er das Ding auf Biegen und Brechen irgendwie gewinnen. Und weil das mit seinen unmotivierten Soldaten und den alten Panzern augenscheinlich nicht geschehen wird, holt er den großen Hammer heraus. Eine reale Gefahr, keine Frage.

Wird er bei der Gelegenheit gleich das Baltikum oder Polen angreifen?

Das halte ich wirklich für ausgeschlossen. Im großen Spiel der Militärmächte gilt nach wie vor: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. Ein atomarer Schlagabtausch mit dem Westen würde Tod und Zerstörung über uns alle bringen, aber ganz sicher auch große Teile Russlands auf Dauer unbewohnbar machen. Ich halte für ausgeschlossen, dass Putin das wirklich will.

Was könnte eine Lösung sein?

Von Anfang an bis heute spricht der Kreml von „Spezialoperationen“ in der Ukraine, um irgendwelche Nazis irgendwie zu bekämpfen, von denen es in Russland allerdings mindestens genauso viele gibt. Und er will die mehrheitlich Russland zugeneigten Gebiete im Osten – Donbass und Luhansk – für Russland sichern und die Krim behalten. Dieses von ihm selbst vorgegebene Ziel scheint deshalb weitgehend erreicht.

Was wäre also, wenn Putin etwas Überraschendes macht am Montag in Moskau? Seinen Leuten sagen: Wie immer großer Sieg Russlands, Mission accomplished – Kriegziele erreicht. Wir stoppen alle Offensivaktionen, auch die Bombardements gegen ukrainische Städte, und jetzt ist Diplomatie angesagt. Das wäre ein gangbarer Weg, der der Ukraine nicht gefallen würde, aber es wäre der Übergang vom Straßenkampf zum Verhandlungstisch.

So denken allerdings nur Westler wie wir, ich bin ziemlich sicher, dass Putin nicht so denkt, weil er weiß: Egal, wie dieser Krieg endet – mit diesem Mann wird keine Regierung im Westen noch jemals Geschäfte machen oder verhandeln. Also, in Neudeutsch – die Marke „Putin“ ist toxisch für alle Zeiten, wie man das jetzt so formuliert. Und deshalb ist leider alles möglich.

Mit herzlichen Grüßen,

Ihr Klaus Kelle

Unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende

Jetzt spenden (per PayPal)

Jetzt abonnieren

Über den Autor

Klaus Kelle
Klaus Kelle, Jahrgang 1959, gehört laut Focus-online zu den „meinungsstärksten Konservativen in Deutschland“. Der gelernte Journalist ist jedoch kein Freund von Schubladen, sieht sich in manchen Themen eher als in der Wolle gefärbten Liberalen, dem vor allem die Unantastbarkeit der freien Meinungsäußerung und ein Zurückdrängen des Staates aus dem Alltag der Deutschen am Herzen liegt. Kelle absolvierte seine Ausbildung zum Redakteur beim „Westfalen-Blatt“ in Bielefeld. Seine inzwischen 30-jährige Karriere führte ihn zu Stationen wie den Medienhäusern Gruner & Jahr, Holtzbrinck, Schibsted (Norwegen) und Axel Springer. Seit 2007 arbeitet er als Medienunternehmer und Publizist und schreibt Beiträge für vielgelesene Zeitungen und Internet-Blogs.