Warum Deutschland Großbritannien braucht

von MICHAEL STING

BERLIN/LONDON – Unsere Zeitung hat kürzlich darüber berichtet, dass Großbritannien als Handelspartner seine Bedeutung verliert. Dieses Jahr wird es GB nicht gelingen, sich in die Top-Ten der deutschen Handelspartner einzureihen. Was auch nicht sonderlich überraschend ist. Die Handelsströme haben sich insbesondere seit dem Brexit neu ausgerichtet und deutsche Unternehmen haben ihre Geschäftsaktivitäten aus Großbritannien nach Deutschland sowie in andere europäische Länder verlagert.

Dieser Trend setzt sich nicht nur fort, sondern verstärkt sich zunehmend. Denn die noch nicht erreichten Brexit-Ziele und teilweise offenen Rechtsfragen zum Beispiel dem Nordirland-Protokoll verunsichern deutsche Unternehmer. Dazu kommen negative Konjunkturerwartungen für die britische Wirtschaft und die stetige Abnahme der Bedeutung des britischen Marktes. All das führt dazu, dass aktuell nur vier Prozent der deutschen Unternehmen sicher oder sehr wahrscheinlich von der Entstehung neuer Partnerschaften mit britischen Unternehmen in Zukunftsfeldern oder Drittmärkten ausgehen.

Und dennoch, dürfen wir trotz der „akuten Schwäche“ des Vereinigten Königreiches nicht vergessen, welche Bedeutung die Insel für Deutschland und Europa hat.

Deutschland und Großbritannien verbindet eine lange Phase von militärischen Kooperationen

Man denke z.B. an dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zwischen den Vereinigten Staaten und England, an dem sich die deutschen Söldner, die sogenannten „Hessen“ intensiv beteiligten und das Kampfgeschehen oftmals zu Gunsten Englands entschieden. Oder der gemeinsame Kampf des „Herzogs von Wellington“ und dem preußischen General Blücher bei Waterloo gegen ein neues Erwachen der napoleonischen Diktatur. Und auch heute noch spielt Großbritannien in einer ganz anderen Liga, als der Rest der EU. Denn mit einer atomaren Bewaffnung, Flugzeugträgern mit Tarnkappenbombern und einem Rüstungsetat von 2,25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) liegt GB deutlich über der NATO-Zielmarke von zwei Pozent.

Zum Vergleich. Die Militärausgaben am BIP in Deutschland lagen 2021 gerade einmal bei 1,34 Prozent. Darüber hinaus verfügen Deutschland und Großbritannien innerhalb der europäischen NATO als alleinige Vertreter über die militärischen Fähigkeiten zur Gewässerüberquerung durch die „Amphibie“. Die drei Schwimmschnellbrückenkompanien – zwei deutsche und eine britische – des deutsch-britisches Pionierbrückenbataillon 130 in Minden sind mit der Amphibie M3 als Hauptwaffensystem ausgestattet.

Großbritannien galt vor dem Brexit als Sicherheitsanker der EU, um gerade die wirtschaftsliberalen und marktorientierten Handelsbeziehungen zu garantieren, gegenüber den protektionistischen Vorstellungen der europäischen Südländer und Frankreich.

Die Lösung der meisten Probleme wie Energie, Gesundheit, Klimawandel, Mobilität, Rüstung etc. liegen in der Forschung. Gerade die Universitäten Oxford und Cambridge gehören zu den Top 10 der weltweiten Eliteuniversitäten. Der Hochschulkompass der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) weist 1.434 offizielle Kooperationen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich aus. 230 deutsche Hochschulen kooperieren mit 163 britischen Hochschulen und vier sonstigen Einrichtungen (Stand: 08/2022).

Eine besondere Initiative ist die Gründung der Forschungsallianz transCampus London-Dresden durch die beiden Universitäten King’s College London und die Technische Universität Dresden (TUD) im Jahr 2015. Die beiden Universitäten haben 2017 mit einer Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein „Internationales Graduiertenkolleg“ (IGK) zum Thema „Immunologische und zellbasierte Strategien bei metabolischen Erkrankungen“ eingerichtet. Der Schwerpunkt von transCampus, der zunächst auf Medizin und Biotechnologie lag, wurde inzwischen auf Nachrichtentechnologie und Materialforschung ausgeweitet. Die University Oxford und vier Berliner Einrichtungen (die Freie Universität Berlin, die Humboldt-Universität zu Berlin, die Technische Universität Berlin und die Charité-Universitätsmedizin Berlin) haben im Dezember 2017 ebenfalls eine Forschungspartnerschaft geschlossen.

Großbritannien gilt als Heimatland des Liberalismus durch seinen Urvater John Locke und der bürgerlichen Individualität und gehört neben den USA zu den ältesten Demokratien der Welt.

Im Gegensatz zu fast allen Staaten besitzt das Vereinigte Königreich keine kodifizierte Verfassung. Diese besteht vielmehr aus Gewohnheitsrecht, erlassenen Gesetzen mit Verfassungsrang und dem Common Law, die zusammen als britisches Verfassungsrecht bezeichnet werden. Das ist auch nicht nötig, weil der Freiheitsgedanke tief in der britischen Seele verwurzelt ist. Wir konnten während der Corona-Krise beobachten, wie schnell und bereitwillig die Bürger in Deutschland sind, ihre Rechte ohne Widerstand aufzugeben. Die Tatsache, dass u.a. das Bundesverwaltungsgericht in Bayern erst feststellen musste, dass die Ausgangssperren verfassungswidrig waren, zeigt doch, dass den meisten Bürgern das Feingefühl für ihre bürgerlichen und verfassungsmäßigen Rechte fehlt, oder es Ihnen tatsächlich völlig egal ist. In beiden Fällen halte ich es für nötig, dass wir Deutschen wieder den Wert der Freiheit entdecken. Und am besten können wir davon nur durch Großbritannien lernen.

Bildquelle:

  • Brexit_Europa: dpa

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