von THILO SCHNEIDER
BERLIN – Der 8. Und 9. Mai sind, je nach Ex-Alliiertem, Gedenktage links und rechts des ehemaligen Atlantikwalls. Gerade jetzt, im Ukraine-Krieg, werden in #Scholzland ganz viele Stimmen laut, die korrekt feststellen, dass der Zweite Weltkrieg nicht mit Verhandlungen, sondern nur mit bedingungslosen Kapitulationen der Kriegsgegner Deutschland und Japan beendet wurde.
Die Schlussfolgerung der „Aus-der-Geschichte-gelernt-Habenden“ lautet daher, dass der Ukraine-Krieg nur mit einem Sieg der Ukraine beendet werden kann, weswegen „wir“, also umgangssprachlich „der Westen“, alles tun müssen, damit dieser Traum vom Endsiegfrieden über Russland wahr werden kann. Jede andere Idee, jeder andere Vorschlag ist „Feigheit vor dem Feind“ und macht den Vorschlagenden zum „Putinversteher“.
Nun neigen ja Armsesselgeneräle gerne dazu, die Erfahrungen aus den letzten Kriegen auf heutige Kriege und Konflikte zu übertragen. Die französischen Generäle simulierten den Ersten Weltkrieg und ließen seinerzeit die Maginot-Linie erbauen. Sie wussten natürlich „ganz genau“, dass ein Angriff durch die Ardennen völlig unmöglich ist. Den Deutschen sollte ein grenznahes Über-Verdun bereitet werden. Das waren die gleichen Generäle, die später von Wehrmachtssoldaten aus ihren Fahrzeugen gezogen wurden, während sie unterwegs waren, ihre Einheiten zu suchen. Anfang Mai sagte im Elysee-Palast der französische Premierminister Reynaud zu seinem obersten General Gamelin: „Sieg!“ und dieser erwiderte: „Darauf kann es nur eine Antwort geben: Frankreich!“ Das hätte prima funktioniert, hätte sich die Wehrmacht an den französischen Verteidigungsplan gehalten und die Maginot-Linie frontal angegriffen. Und hätte es noch Doppeldecker und keine Panzer und Fallschirmjäger gegeben.
Ebenso ist es heute mit dem „Mut“ der zu Hause vor dem Rechner schwadronierenden Generäle und Spezialisten bestellt: Liefert Panzer und schwere Haubitzen und treibt „den Iwan“ zurück… Auch das hat allerdings schon 1941 nicht richtig gut geklappt. Der Ukraine-Krieg ist weder mit dem Zweiten Weltkrieg, noch mit Afghanistan oder Syrien vergleichbar. Schlicht, weil sich bei einem weiter eskalierenden Schlagabtausch am Ende zwei Atommächte gegenüberstehen. Deutschland hat kapituliert, weil es keine Ressourcen mehr hatte, Japan, nachdem es zwei Atombomben kassiert hatte.
Die Situation ist in der Ukraine- „Spezialoperation“ eine gänzlich andere.
Russland mag auf Dauer keinen Sieg erringen können – es wird jedoch keinesfalls eine Niederlage erleiden und akzeptieren, völlig egal, ob Putin an der Macht bleibt oder nicht. Bevor dies passiert, halte ich bei der Unberechenbarkeit der russischen Führung den Einsatz von zumindest taktischen Atomwaffen auf ukrainisches Territorium für wahrscheinlich. Und dann? Wollen und sollen wir im Westen die Eskalationsspirale so weit nach oben drehen, dass dies im Bereich des Möglichen liegt? Oder ist das Feigheit und ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass russische Generäle und ihre Führung eine wie immer geartete konventionelle Niederlage mit einem schnöden „Schade“ hinnehmen? Anders gefragt: Hätte Hitler die Atombombe gehabt – welche Halbwertszeit hätten die Invasion oder die russischen Offensiven 1943 gehabt? Gäbe es Moskau und London noch?
Die Falken im Westen argumentieren, es sei das Recht der Ukraine, sich selbst zu verteidigen (das stimmt!) und es könne nicht sein, dass ein Land, nur weil es Atomraketen habe, ein anderes Land unterdrücken dürfe, weil es es unterdrücken könne (das ist moralisch richtig). Ich gebe gerne zu, dass ich mich in der Lage eines Franzosen wiederfinde, der sich 1939 fragt, ob er „für Danzig sterben möchte“. Die französische Führung hatte aber wenigstens ein Garantieabkommen mit Polen, das eine Berechtigung für ihre Kriegserklärung hergab. Bezahlt hat das Frankreich so ganz nebenbei mit einer Siegesparade der Deutschen unter dem Arc de Triomphe und jahrelanger Besatzung. Sind wir dazu ebenfalls gegebenenfalls bereit? Und wer „befreit“ uns dann? Und wie?
Hätte Hitler ohne französische und englische Kriegserklärung das Land nach dem Polenfeldzug angegriffen? Ich weiß es nicht. Mutmaßlich ja, früher oder später. Schlicht, weil er es konnte. Allein schon, um nicht auf den Aufmarsch eines ernstzunehmenden Gegners aus Franzosen, Engländern und eventuell Amerikanern zu warten. Fakt ist, dass Hitler und seine Entourage damals die Westmächte unterschätzt haben und von der englischen und französischen Kriegserklärung absolut überrascht waren („Ich sah meine Gegner in München. Sie sind kleine Würstchen“, so Hitler). Fakt ist auch, dass Verträge mit Hitler nicht das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben wurden. Hätte sich also ein Hitler durch Verträge „einhegen“ lassen? Nein. Wer etwas anderes glaubt, mag den Genossen Stalin fragen.
Fakt ist ebenfalls, dass ein Wladimir Putin keinen triftigen Grund braucht, um ein Land zu überfallen und dass auch seine Verträge nur so lange Bestand haben, wie sie ihm in den Kram passen. Fakt ist aber auch, dass er die Bombe hat, die Hitler nicht hatte. Das Russland 2022 ist nicht das Deutschland 1939 oder 1941. Es ist nicht einmal das Russland von 1945, kraftstrotzend und aufgepimpt durch amerikanische Waffenlieferungen.
Die Frage, die sich sämtliche mutigen Armsesselgeneräle stellen müssen: Können wir als Westen das Risiko gehen, dass Putin durchdreht? Sind wir bereit, wenn es ganz dumm läuft, Kriegsschauplatz zu werden? Wollen wir wirklich die Freiheit dadurch verteidigen, dass sie uns das Leben kostet?
Lieber „tot als rot“?
Apropos: Die Rote Linie für Putin sind die NATO-Grenzen. Das muss er wissen und das muss (und wird!) ihm auch klar sein. Ein Angriff auf das Baltikum oder Polen sind andere „Hausnummern“, als ein Angriff auf die Ukraine. In diesem Falle: „Nuke ´em down“. Das sind Bündnispartner. Keine Diskussion!
Die Ukraine kann diesen Krieg konventionell kaum total gewinnen – aber Russland kann ihn auch nicht total verlieren. Eine Lösung dieses Konflikts gibt es tatsächlich nur am Verhandlungstisch – oder, bestenfalls, in einem konventionellen Patt. Wenn wir „als Westen“ nicht das Risiko eines Atomkriegs gehen wollen. Noch einmal: Sind wir dazu wirklich bereit?
Sollte allerdings tatsächlich das Wunder gelingen, dass es die Ukraine mit massiven westlichen Waffenlieferungen schafft, den Donbass und die Krim zurückzuerobern – wird geopolitisch nicht der Westen oder die Ukraine der Sieger sein. Denn dann wird Russland zusammenbrechen. Der eigentliche Sieger sitzt dann interessanter Weise in Peking. Ob uns das dann besser gefällt?
Der „Königsweg“ dürfte der sein, es den Russen so teuer wie möglich zu machen, die Ukraine zu erobern. Putin derartige Verluste einfahren zu lassen, dass er schlicht die Lust verliert und Russland militärisch „die Puste“ ausgeht. In einem Zeitalter, in dem eine baguettegroße Billigdrohne, die von der Schulter einer Zahnarzthelferin abgefeuert wird, einen millionenteuren Panzer mit einer ausgebildeten Besatzung lahmlegen kann, ist das sicher keine Unmöglichkeit. Das Problem der Abnutzung ist nur, dass sie nicht nur eine Seite abnutzt. Wie lange kann so etwas dauern? Das Ergebnis wäre übrigens mutmaßlich das Gleiche, wie wenn sich die Ukraine gleich an den Verhandlungstisch setzt – nur jetzt noch mit ein paar Tausend Toten hüben und drüben weniger. Dies sowohl Selenskij als auch Putin klarzumachen, wäre eigentlich Sache der Diplomaten. Was machen die eigentlich derzeit so beruflich?
Bildquelle:
- Russische Atomrakete: dpa