US-Präsidentschaftswahl: Warum Joe Biden am 5. November immer noch gewinnen kann

Joe Biden

von DR. STEFAN GEHROLD (USA)

WASHINGTON – „It was epic, man“, kommentierte ein Freund nach der ersten TV-Debatte Joe Bidens und Donald Trumps bei CNN am 27. Juni. Und damit meinte er, dass das Duell erschütternd in jeder Hinsicht war.

Biden Verlierer des ersten Fernsehduells

Selbst die von CNN in Auftrag gegebene Blitzumfrage sah Trump als klaren Sieger.

Zwischenzeitlich veranlasste ihn das Gestammel seines Kontrahenten zu einem beißenden, aber treffenden Kommentar: Ich weiß nicht, was er mit dem letzten Satz sagen wollte, und ich glaube, er selbst weiß es auch nicht.

Seither reißen die Forderungen nach einem Rückzug des Präsidenten aus dem Wahlkampf nicht ab. Vor allem demokratische Medien fordern einen Austausch des Spitzenmannes. Aber auch eine Reihe demokratischer Politiker äußerte sich entsprechend. Der zwischenzeitlich erfolgte schriftliche Appell Bidens an seine Parteikollegen um Geschlossenheit verhallte.

Einzig das Biden-Team sieht es anders. Und genau deshalb wird es zum von vielen Demokraten gewünschten Austausch nicht kommen.

Auch Hollywoods Beschwörungen helfen nicht

Der Demokrat George Clooney hatte viel Geld für die Biden-Kampagne gespendet. Jetzt erwartet er dessen Rückzug, wie er der New York Times sagte.

Doch um Biden herum hat sein Team einen Kordon geflochten.

Biden selbst gilt als Politiker, der viel liest. Aber hören, so sein Umfeld, soll er nur auf seine Leute. Dieses Team hat die Geschlossenheit, die seine Partei vermissen lässt. Bereits im April schrieb die New York Times über den engen, schmallippigen Kreis von Vertrauten des Präsidenten. Sie sind so unscheinbar, dass sie kaum wahrgenommen werden, aber ihr Einfluss auf den Präsidenten ist enorm. Zentral ist offenbar Anthony Bernal, offiziell ein Berater der Präsidentengattin.

Dann ist da noch Annie Tomasini, offiziell die stellvertretende Stabschefin im Weißen Haus und natürlich der stellvertretende Pressesprecher Andrew Bates. Diese drei und etwa ein Dutzend mehr können nichts gewinnen, aber alles verlieren, wenn der Kandidat nicht mehr Joe Biden heißt. Ihre Botschaft an den Präsidenten lautet: Durchziehen, Trumps Angriffe auf dessem Niveau kontern, Unwahrheiten mit Unwahrheiten begegnen (es kommt sowieso nicht mehr darauf an!) und: besser vorbereiten! Was das heißt, musste unlängst die Radiomoderatorin Andrea Lawful-Sanders aus Philadelphia erfahren. Vor ihrem Interview mit dem Präsidenten schickte ihr das Biden-Team die zu stellenden Fragen zu. Fr. Sanders hielt sich daran.

Offizielle Nominierung in Chicago

Dann ist da der Nominierungsparteitag, bei dem der demokratische Kandidat gekürt wird. Danach geht faktisch nichts mehr. Dieser Parteitag findet vom 18. bis 22. August statt. Das Ergebnis der demokratischen Vorwahlen war eindeutig. 99 Prozent der gewählten Delegierten sind Unterstützer des amtierenden Präsidenten. Sie mussten eine sogenannte Pledge unterzeichnen, die sie an Parteistatuten bindet. War es das damit für jeden anderen Kandidaten? Unklar. Das hängt vom einzelnen Bundesstaat ab.

Die Regelungen sind in Texas anders als in Idaho oder sonstwo. Im Verfahren der Demokratischen Partei gegen (faktisch) den Staat Wisconsin entschied 1981 der Oberste Gerichtshof, dass die Parteistatuten Vorrang vor einzelstaatlichem Recht haben. Also zwingend sind. Der Staatsgerichtshof Nebraska urteilte 1912, dass der einzelne Delegierte eine persönliche Gewissensentscheidung träfe, also nicht verpflichtet werden könnte.

Und was sagen die demokratischen Delegierten? Unzweideutig: Solange Joe Biden nicht selbst zurückzieht, ist und bleibt er der Kandidat und erhält deren Stimme, lassen seine Delegierten ausnahmslos verlauten.

Wer sollte sich unter demokratischen Bewerbern auf eine Kampfkandidatur einlassen? Sie erscheint nicht nur aussichtlos, sondern bedeutete auch das sichere Ende jeglicher politischen Ambitionen.

Gavin Newsom, Michelle Obama, Kamala Harris?

Womit wir bei der Überlegung wären, wer überhaupt in Frage käme. Genannt werden immer wieder diese drei Namen. Eine Kampfkandidatur gegen den amtierenden Präsidenten wird keiner wagen. Aber auch bei einem Rückzug Bidens müsste ja jemand mit Aussicht auf einen Wahlsieg nominiert werden.

Die aktuelle Vizepräsidentin Harris ist unbeliebt und liegt in Umfragen noch deutlicher zurück als ihr Chef. Sie gilt selbst vielen Demokraten als zu links und würde zweifellos viele Republikaner mobilisieren, die eigentlich der Wahl fernblieben.

Michelle Obama hat keine politische Erfahrung, ist aber beliebt. Dennoch Vorsicht: Bei der Etablierung von Familiendynastien in der Politik reagiert der Amerikaner mittlerweile allergisch. Hillary Clinton und Jeb Bush konnten 2016 ein Lied davon singen.

Bleibt der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom. Er ist dort unbestritten, gilt als Sonnyboy, der auch lockere Wortgefechte mit republikanischen Medien führt. Aber hat er die nationale Reife? Ist er ein Leichtgewicht, wie manche meinen? Und wenn er verliert, kann er dann noch Gouverneur bleiben, oder ist er beschädigt?

Viele Fragezeichen? Wer lässt sich schon auf ein Vabanque-Spiel ein? Den Demokraten fehlen, zumindest in dieser Phase, die Alternativen.

Ohne Moos nichts los – Was passiert mit den Spenden, falls der Präsident zurückzieht?

Und dann ist da noch das liebe Geld. Wahlkampf ist teuer. Aber es wird auch reichlich gespendet. So reichlich, dass Barrack Obama erstmals im Jahr 2008 keine staatliche Wahlkampfhilfe in Anspruch nahm. Im Gegensatz zu seinem Konkurrenten John McCain. Sein Team verfügte über fast eine dreiviertel Milliarde Dollar. In den letzten Wochen seines Wahlkampfes wusste man gar nicht mehr, wohin mit dem Geld. Die Kampagne kaufte bei nationalen TV-Sendern schlicht Sendezeit, um Obama bis zu 30 Minuten für sich werben zu lassen. Großindustrielle und institutionelle Investoren sind in der Tendenz demokratisch. Daher liegen auch im jetzigen Wahlkampf die Demokraten in der Summe vorn: Nach Auskunft des Bundeswahlausschusses hatte Joe Biden bis zum 9. Mai ein um 55 Millionen Dollar höheres Spendenaufkommen als der Immobilienunternehmer Donald Trump aus New York.

Rechtlich müsste nach einer Neunominierung nichts erstattet werden. Aber politisch ist es nicht einfach: Spender der Biden-Kampagne wollten vielleicht für eine Harris- oder Obama-Kampagne gar nichts geben.

Kulturlose TV-Debatte

Was das Biden-Team trieb, auf dieses Duell überhaupt zu bestehen, bleibt deren Geheimnis. Der Präsident konnte nur verlieren. Verloren hat auch die politische Kultur in der „Wiege der Demokratie“. Die gegenseitigen Beschimpfungen und die Aneinanderreihung von Unwahrheiten waren kaum noch erträglich. Ebenso wenig wie der fehlende Faktencheck der Moderatoren. Insbesondere CNN-Anchor Dana Bash war nicht auf der Höhe.

Wie wohltuend doch die Zeiten, in denen Gentleman McCain einer Zuhörerin bei einer Wahlkampfveranstaltung behutsam das Mikrofon aus der Hand nahm. Diese hatte soeben zu einer Tirade auf seinen Kontrahenten Obama angesetzt. McCain stoppte seine Anhängerin: „No, Ma’am“!

Wie war und ist die Lage?

Bis zum 27. Juni war die Zustimmung für den deutschstämmigen Trump stetig gesunken. Zuvor lag Trump in den sechs entscheidenden Bundesstaaten vorn. Der Dauerbeschuss in unterschiedlichen Strafverfahren gegen ihn zeigte langsam Wirkung. Das CNN-Interview hat den alten Zustand wiederhergestellt. Es rückt den Präsidenten und nicht seinen Herausforderer in den Fokus.

Das alles kann sich ändern. Am 18. September verkündet Richter Juan Merchan das Strafmaß im Schweigegeldprozess gegen Trump. Eine Haftstrafe ist nicht ausgeschlossen. Der ehemalige Präsident in oranger Sträflingskleidung? Ein herrliches Motiv für die überwiegend demokratischen Medien im Land.

Darauf zählt das Team Biden; und auf einen besseren Auftritt bei der nächsten TV-Debatte am 10. September.

Und so kann – trotz aller Widrigkeiten – der nächste Präsident auch wieder Joe Biden heißen.

Bildquelle:

  • US President Joe Biden delivers speech on climate emergency in Massachusetts.: depositphotos

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