Ungarn und Polen wehren sich gegen EU-Sanktionen: Brüssel darf Ländern nicht vorschreiben, was „Rechtsstaat“ ist

ARCHIV - Mateusz Morawiecki (l), Ministerpräsident von Polen, spricht während einer Verhandlungsrunde beim Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs mit Viktor Orban, Premierminister von Ungarn. Foto: Olivier Hoslet/Pool EPA/AP/dpa

Ungarn und Polen klagen vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die neue Rechtsstaatsklausel im EU-Haushalt. Die obersten EU-Richter müssen nun prüfen, ob der neue Mechanismus zur Kürzung von EU-Geldern bei bestimmten Rechtsstaatsverstößen zulässig ist. Seine Anwendung dürfte sich damit um Monate verzögern. Mit dem neuen Rechtsstreit vor dem EuGH spitzt sich der Konflikt um Grundwerte in der EU weiter zu.

Erst in letzter Minute hatten sich die EU-Staaten im vergangenen Jahr auf den mehrjährigen EU-Finanzrahmen bis 2027 und das Corona-Aufbauprogramm geeinigt. Teil des 1,8-Billionen-Euro-Pakets ist erstmals der Rechtsstaatsmechanismus, den Ungarn und Polen ablehnen. Ihre Klage reichten sie am Donnerstag erst unmittelbar vor Fristende ein – und ziehen das Verfahren somit in die Länge.

«Wir können nicht zulassen, dass diese EU-Bestimmung, die schwerwiegend gegen EU-Recht verstößt, in Kraft bleibt», schrieb die ungarische Justizministerin Judit Varga auf Facebook. Der polnische Regierungssprecher Piotr Müller erklärte, man gehe davon aus, dass diese Lösung keine rechtliche Grundlage in den EU-Verträgen habe. Für die Vergabe von Geld aus dem EU-Haushalt sollten einzig objektive und konkrete Bedingungen gelten. Die EU habe keine Befugnis, den Begriff «Rechtsstaat» zu definieren.

Mit Blick auf den Rechtsstaat sind beide Länder schon lange Zankapfel in der EU. Beide bekommen netto hohe Milliardenbeträge aus dem EU-Haushalt, zugleich werden sie wegen mutmaßlicher Missachtung von EU-Grundwerten mit sogenannten „Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge“ überzogen. Die nationalkonservative Regierung in Polen baut das Justizwesen trotz internationaler Kritik um und die konservative Regierung von Viktor Orban in Ungarn steht wegen ihrer Flüchtlings-, Medien-, Hochschul- und Justizpolitik in der Kritik des EU-Mainstreams.

Dem Haushaltspaket inklusive Rechtsstaatsklausel stimmten Polen und Ungarn im Dezember schließlich doch zu. Als Kompromiss handelte Deutschland – damals im Ratsvorsitz – eine Zusatzerklärung aus. Zentraler Punkt war die Klarstellung, den Rechtsstaatsmechanismus vom EuGH überprüfen lassen zu können. Ungarn und Polen kündigten damals bereits an, davon Gebrauch zu machen, und setzen dies nun um.

Die EU-Kommission wird nach Angaben eines Sprechers das Urteil des EuGH abwarten, bevor sie gegebenenfalls erstmals eine Kürzung von EU-Geld vorschlägt. Durchschnittlich dauern Verfahren am EuGH rund eineinhalb Jahre. Bei einem beschleunigten Verfahren, das das Europaparlament beantragen dürfte, sind es immer noch zehn Monate.

Doch auch darauf wollen die Abgeordneten nicht warten: «EU-Kommissionspräsidentin (Ursula) von der Leyen muss unabhängig von der Klage endlich den Rechtsstaatsmechanismus anwenden, um den Korruptionssumpf in Ungarn trockenzulegen und in Polen die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen», sagte FDP-Politiker Moritz Körner.

Katarina Barley (SPD) warnte: «Jeder Tag, an dem die EU-Kommission den Rechtsstaatsmechanismus nicht anwendet, fügt der Demokratie in Europa irreparablen Schaden zu.» Die Klagen von Polen und Ungarn dürften «keine aufschiebende Wirkung» haben. Notfalls werde das Europaparlament die EU-Kommission vor dem EuGH zum Handeln zwingen.

Auch Daniel Freund von den Grünen drohte mit juristischen Schritten gegen die Behörde. «Der Rechtsstaat in Europa kann nicht warten. Wenn die EU-Kommission weiter tatenlos bleibt, wird das Europäische Parlament die Klage gegen die EU-Kommission vor dem EuGH einreichen.»

Von der Leyen hatte im Dezember hingegen betont, dass sie die Wirkung der Rechtsstaatsklausel durch etwaige Klagen von Polen und Ungarn nicht eingeschränkt sehe. «Es geht kein einziger Fall verloren», sagte die CDU-Politikerin damals. «Wenn ein Bruch der Rechtsstaatlichkeit vorliegt, dann wird dieser Fall aufgenommen.» Sobald der EuGH geurteilt habe, würden diese Fälle abgearbeitet.

Die Zusatzerklärung zum Rechtsstaatsmechanismus erläutert auch, dass die Feststellung eines Rechtsstaatsverstoßes allein nicht ausreicht, um EU-Finanzhilfen zu kürzen. Vielmehr muss erwiesen werden, dass der Verstoß negative Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Geld hat. In strittigen Fragen muss sich der Rat der Staats- und Regierungschefs mit dem Thema beschäftigen.

Bildquelle:

  • Klage gegen EU-Rechtsstaatsklausel: dpa

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