von DR. GERHARD PAPKE
(Präsident der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland e.V.)
Unter Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher war es oberstes Gebot deutscher Europapolitik, den Völkern Mittel- und Osteuropas die Hand zu reichen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Beide Staatsmänner wussten, dass die Teilung Deutschlands und die Teilung Europas nur gemeinsam überwunden werden konnten. Dieses historische Werk gelang, weil sich Deutschland jenseits des früheren Eisernen Vorhangs großes Vertrauen erworben hatte. All das klingt heute wie Geschichten aus einer fernen Zeit.
Denn im Jahr 2021 fällt deutsche Politik immer mehr durch ihre moralisierende Überheblichkeit gegenüber anderen Ländern auf. Längst schlägt der linke Meinungsdruck in Deutschland, der schon das schlichte Bekenntnis zur Ehe von Mann und Frau als „homophob“ brandmarkt, auch auf die Außenpolitik durch. Er knüpft dabei, ohne es zu reflektieren, an das selbstgefällige Gefühl kultureller Überlegenheit an, das der deutschen Politik schon früher nicht gut bekommen ist.
Doch offenbar ist die im 19. Jahrhundert vom Lyriker Emanuel Geibel geprägte und von Kaiser Wilhelm II. pervertierte Botschaft, „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, inzwischen selbst gegenüber europäischen Völkern wieder groß in Mode.
Ein aktuelles Beispiel? Jüngst hat der Intendant der Deutschen Welle angekündigt, sein Sender werde künftig Beiträge in ungarischer Sprache senden, um die angeblich „in den ungarischen Medien weniger diskutierten Themen wie Menschenrechte, Minderheitenrechte und LGBTQ-Themen zu behandeln“. Ein staatsfinanzierter deutscher Sender fühlt sich also berufen, dem ungarischen Volk die Sicht der Dinge zu vermitteln, die er für richtig hält. In Ungarn hat der Vorgang begreiflicherweise hohe Wellen geschlagen.
Nein, Ungarn braucht keinen Nachhilfeunterricht durch deutschen Staatsfunk. Ein Volk, das in seiner langen, schmerzhaften Geschichte permanent ums eigene Überleben und seine Freiheit kämpfen musste, ein Volk, das sich der kommunistischen Unterdrückung tapfer widersetzt und als erstes eine Bresche in den Eisernen Vorhang geschlagen hat, braucht keine „demokratische Entwicklungshilfe“, und schon gar nicht aus Deutschland.
Die Themen, die die Deutsche Welle genannt hat, lassen übrigens erahnen, welche eigentlichen Ziele damit verbunden sind. Denn einem Teil der deutschen Parteien passt einfach die ganze Richtung der ungarischen Politik nicht. Die große Mehrheit der Ungarn will keine unkontrollierte Massenzuwanderung, bekennt sich zu ihrer christlichen Identität und zur Bedeutung der traditionellen Familie. Das verursacht der politischen Linken in Deutschland und Westeuropa schon seit langem geradezu Schüttelfrost. Fatal ist allerdings, dass sich inzwischen auch FDP und Union deren Kampagne gegen Ungarn angeschlossen haben.
So ist die ungarische Regierungspartei Fidesz mit ihrem Auszug aus der EVP-Fraktion im Europaparlament nur ihrem Ausschluss zuvorgekommen, den der CSU-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber vorbereitet hatte. In der Union, aber auch in den Kommentaren deutscher Medien, ist diese Trennung überwiegend begrüßt worden. Die ungarische Regierungspolitik habe sich zu weit nach rechts verschoben. SPD und Grüne können sich wirklich freuen, wie gut ihr Narrativ gefruchtet hat.
Andere Stimmen werden kaum zur Kenntnis genommen. So hat etwa Arnold Vaatz, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und früherer DDR-Bürgerrechtler, der deutschsprachigen „Budapester Zeitung“ ein bemerkenswertes Interview gegeben. Dort sagt er unter anderem: „Der Fidesz bezieht heute in wesentlichen Fragen Positionen, die die CDU vor zwanzig Jahren vertreten hat. Zu einigen dieser Positionen steht die CDU heute in einem unversöhnlichen Gegensatz, so etwa in der Energiepolitik, der Genderpolitik und der Einwanderungspolitik“.
Ist also vielleicht gar nicht die ungarische Politik immer weiter nach rechts gerückt, sondern die deutsche Politik immer weiter nach links? Diese Debatte wäre nicht nur innerhalb der Union bestimmt spannend, aber sie wird erst gar nicht geführt. Weshalb soll man sich auch noch mit Sachfragen beschweren? Schließlich weiß doch jeder, dass Orbán ein böser Rechtspopulist ist, der den Rechtsstaat ruiniert und die Meinungsfreiheit in Ungarn unterdrückt, oder? Dazu kann es doch wohl keine anderen Auffassungen geben, es sei denn, man will sich selber als verkappter Rechtsradikaler outen.
Es ist ausgesprochen schade, dass sich Helmut Kohl, den Viktor Orbán bewundert und noch in dessen letzten Lebensjahren persönlich besucht hat, nicht mehr dazu äußern kann, wie Deutschland heute unter dem Einfluss der politischen Linken mit anderen Völkern Europas umspringt.
Nein, niemand ist gezwungen, die Überzeugungen des ungarischen Volkes oder gar die Politik seiner Regierung zu teilen. Eine Regierung muss sich Kritik gefallen lassen, jede ungarische, jede deutsche. Aber es wäre ein Gebot des Respekts gegenüber der souveränen ungarischen Kulturnation, ihre Werte zu tolerieren. Und es stünde in der besten Tradition deutscher Europapolitik, die Europäische Union nicht auseinandertreiben zu lassen, sondern Brücken zu bauen. Der Brexit war Warnung genug. Auch den hätte es unter Kohl und Genscher wohl kaum gegeben. Aber das ist ein anderes Thema.
Dr. Gerhard Papke war Vizepräsident des Landtags und Vorsitzender der FDP-Fraktion in Nordrhein-Westfalen.
Bildquelle:
- Ungarn_Flagge: dpa