KIEW – Der von Moskau bekannt gegebene Truppenrückzug aus dem ostukrainischen Gebiet Charkiw ist in Kiew mit Genugtuung aufgenommen worden. «Besatzer haben in der Ukraine keinen Platz und werden keinen haben», sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner Videoansprache in der Nacht. Mehr als sechs Monate nach Kriegsbeginn hatte seine Armee die russischen Besatzer im Charkiwer Gebiet bis zum Samstag massiv zurückgedrängt. Wenig später gab das Verteidigungsministerium in Moskau dann einen Rückzug seiner Truppen aus strategisch wichtigen Städten bekannt.
Für weitere erfolgreiche Gegenoffensiven ist Kiew eigenen Angaben zufolge aber auf weitere Waffenlieferungen aus dem Westen angewiesen. Bei einem Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) machte ihr ukrainischer Kollege Dmytro Kuleba diesbezüglich Druck.
Selenskyj: 2000 Quadratkilometer zurückerobert
Selenskyjs Angaben zufolge haben die Ukrainer in den vergangenen zehn Tagen rund 2000 Quadratkilometer in bislang von Russland besetzten Gebieten zurückerobert. Der ukrainische Staatschef dankte allen Soldaten, die an Rückeroberungen im Charkiwer Gebiet beteiligt waren.
Offiziell begründete Moskau den Abzug der eigenen Truppen damit, dass durch die Umgruppierung Einheiten im angrenzenden Gebiet Donezk verstärkt werden sollen. Viele Militärexperten gehen jedoch davon aus, dass die Russen angesichts des massiven ukrainischen Vorstoßes im Charkiwer Gebiet zuletzt so stark unter Druck geraten sind, dass sie sich zur Flucht entschieden haben.
Russische Besatzer rufen Menschen in Charkiw zur Flucht auf
Nach der Bekanntgabe des Rückzugs riefen die russischen Besatzer alle Bewohner der bislang unter ihrer Kontrolle stehenden Orte in Charkiw zur Flucht auf. «Ich empfehle nochmals allen Bewohnern der Region Charkiw, das Gebiet zum Schutz ihres Lebens und ihrer Gesundheit zu verlassen», sagte der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung, Witali Gantschew, laut der Agentur Tass. «Jetzt in seinem Haus zu bleiben, ist gefährlich.»
Ukraine drängt Deutschland zur Lieferung von Kampfpanzern
Mit Blick auf weitere Rückeroberungsversuche drängt die Ukraine Deutschland zur Lieferung von Kampfpanzern. «Wir sehen keine Hindernisse dafür», sagte Außenminister Kuleba nach einem Treffen mit seiner deutschen Kollegin Baerbock in Kiew. Bis sich Berlin dazu entschließe, solle Deutschland weiter Artilleriemunition liefern. «Das erhöht spürbar unsere Offensivmöglichkeiten und das hilft uns bei der Befreiung neuer Gebiete», sagte der Chefdiplomat.
Baerbock reagierte zurückhaltend auf die ukrainische Forderung. «Wir liefern ja seit längerem bereits schwere Waffen. Und wir sehen, dass diese schweren Waffen auch einen Unterschied mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine machen», betonte sie. Konkret nannte Baerbock Mehrfachraketenwerfer, Panzerhaubitzen und Flakpanzer vom Typ Gepard. Von letzteren werde Deutschland schnellstmöglich zehn weitere liefern. Die Außenministerin sagte zudem schweres Gerät zum Aufbau von Brücken und Winterausrüstung zu.
Baerbock fordert russischen Abzug vom AKW Saporischschja
Baerbock forderte darüber hinaus den vollständigen russischen Abzug vom Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja in der Südukraine. Mit der Besetzung des Kernkraftwerks setze der russische Präsident Wladimir Putin die gesamte Region der Gefahr eines nuklearen Zwischenfalls aus, sagte die Grünen-Politikerin.
Das wird am Sonntag wichtig
Überschattet von Manipulationsvorwürfen steht in Russland am Sonntag der dritte und letzte Tag von Regional- und Kommunalwahlen an. Bei den ersten Abstimmungen seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine werden in mehr als 80 Regionen des Riesenlandes Gouverneure, örtliche Parlamente und Stadtteilvertretungen neu bestimmt. Unabhängige Wahlbeobachter beklagen, dass kaum von einer freien politischen Willensbekundung die Rede sein kann, weil echte Oppositionelle von vornherein ausgeschlossen worden seien.
Bildquelle:
- Charkiw: dpa