von JUIAN MARIUS PLUTZ
MÜNCHEN – Stellen Sie sich vor, Sie gehen einer Beschäftigung nach und ihr Chef findet es gar nicht gut, was sie für Ansichten haben. Vielleicht sehen Sie die Corona-Maßnahmen kritisch und ihr Vorgesetzter überhaupt nicht. Vielleicht aber kritisiert ihr Vorgesetzter die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung und sie wiederum empfinden seine Haltung als kritikwürdig. Möglicherweise wählen Sie die Linken und er die FDP. Oder die Grünen. Oder die Tierschutzpartei, was Ihrem Chef gar nicht passt.
Und dann stellen Sie sich weiter vor, dass Sie genau deswegen gekündigt werden. Weil sie sich in der SPD, für Fridays for Future, weil sie die Violetten angehören, oder weil sie ein Fan von Wladimir Putin sind. Genau das ist dem Dirigenten Valery Gergiew passiert, eben noch Chefdirigent der Münchner Philharmoniker – und nun arbeitslos. Zugegeben, erwerbslos wird er nicht sein, jettet der Russe doch um den halben Globus, um den Taktstock zu schwingen. In München ist er seinen Posten nun los. Und zwar nicht, weil er etwas gesagt hat, sondern weil er etwas nicht gesagt hat. Was ist passiert?
Es riecht nach Totalitarismus
Es ist kein Geheimnis und Gergiew hat daraus auch nie eines daraus gemacht, dass er Putin für einen hervorragenden Politiker hält. So weit, so mag das bedauerlich sein, aber so weit ist das seine private Meinung. Nun wurde er geschasst. Die „mangelnde Distanz des Dirigenten zum aktuellen menschenverachtenden Vorgehen des russischen Präsidenten“ habe „den Ausschlag gegeben“, ihn nicht mehr einzuladen, so Intendant Benedikt Stampa: „Wir vertreten offensichtlich nicht mehr die gleichen Werte.“ Auf Bitte um Stellungnahme sei von Gergiev keine Reaktion gekommen.
Bitte beachten Sie den letzten Satz. Da sich der Dirigent weigerte, sich zur Causa Putin zu äußern, ist er seinen Job los. Er hat also nicht einmal etwas falsches gesagt. Er hat lediglich im falschen Moment gar nichts gesagt. Das riecht nicht nur totalitär, das ist schlicht totalitär. Oberbürgermeister Reiter reagierte zugeknöpft. Offensichtlich war die Aktion mit den Herrschenden in München abgesprochen. Auf die Frage, inwieweit das rechtliche Folgen haben könnte, antwortete er: „Alles weitere werden wir so schnell wie möglich klären“.
Es erinnert an dunkle Zeiten
Das heißt: Da kein Arbeitsgericht in Deutschland eine fristlose Kündigung aufgrund abweichender Gesinnung akzeptieren wird, stellt sich der Oberbürgermeister bereits auf eine propere Abfindungssumme ein. Das wäre dann noch nicht mal „Schweigegeld“, denn, wie erwähnt war Gergievs Vergehen, dass er eben geschwiegen hat.
Oft genug wird Kultur unerträglich, wenn sie aus ihren Werken heraus einen politisierenden Anspruch entwickelt. Doch absolut nicht hinnehmbar ist es, wenn Kultur von der Politik zur genehmen politischen Haltung genötigt wird. Gergiev hatte völlig recht, zu schweigen. Es ist überhaupt nicht die Aufgabe von Leuten, die in der Öffentlichkeit stehen, sich zu politischen Themen zu äußern. Um ehrlich zu sein bin ich um jeden Prominenten dankbar, der dies unterlässt. Es ist ein Skandal, wenn Intendanten und Oberbürgermeister ein politisches Statement, das freilich der eigenen Meinung zu entsprechen hat, von ihren Untergebenen verlangen. Für einen Moment erinnert das in diesem Punkt an die dunkelsten Zeiten der jüngsten beider deutschen Diktaturen.
Cancel Culture par excellence
Wollen wir tatsächlich einen politisch gesäuberten öffentlichen Raum voller Ja-sagender Protagonisten? Dann wird das Wort „Kulturschaffender“, eine hübsche Vokabel aus der DDR, wiederbelebt. Traumschön. Wenn ich in ein Konzert gehe, ist mir eines völlig egal: Die politische Überzeugung des Dirigenten. Der Fall Gergiev ist ein Grenzüberschritt, ein Skandal, Cancel Culture par excellence und etwas, was nicht hätte passieren dürfen. Es ist Ausdruck einer zutiefst verunsicherten und neurotischen Gesellschaft, die ein großes Problem mit abweichenden Meinungen hat. Das wird uns noch auf die Füße fallen.
Bildquelle:
- Waleri Gergijew: dpa