von JULIAN MARIUS PLUTZ
DORTMUND – In Dortmund attackiert ein 16-jähriger Senegalese Polizisten aufs Übelste, bis die Beamten zur Schusswaffe griffen – um ihr Leben zu schützen. Bevor der Fall abschließend geklärt ist, steht der Täter bereits fest: Die Polizei.
Wer in Deutschland Polizist ist, hat oftmals einen schweren Stand. Zumindest was weite Teile der Bevölkerung angeht. Wie oft ich gehört habe, meistens von der linken Seite der Schöpfung, dass man sich unwohl fühlt, wenn ein „Bulle“ beispielsweise die Bahn betritt, kann ich an zwei Händen kaum abzählen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht und nennen Sie mich gnadenlos altmodisch, aber ich fühle mich tendenziell sicherer, wenn ich die Herren und Damen in Uniform im Zug erblicke.
Und so ist es kaum eine Überraschung, dass die Millionen Experten in Sachen operativer Polizeiarbeit auch schnell mit dem Urteil sind, wenn die Meldung eines Einsatzes die mediale Runde macht. In Dortmund hat die Polizei am späten einen 16-Jährigen erschossen. Der Jugendliche attackierte Einsatzkräfte mit einem Messer, worauf mindestens ein Beamter oder eine Beamtin zur Dienstwaffe griff. Wenig hilfreiche Tipps aus dem Elfenbeinturm
Die Kritik aus den Medien kam wenig überraschend und stante pede: „Weil er ein Messer hatte: Polizei schießt fünfmal auf jungen Senegalesen“, titulierte das Deutsch-Türkische Journal. Das klingt, als hätte sich der Täter gerade ein Schweizer Taschenmesser gekauft und wurde deshalb erschossen. Dabei war, laut Polizeibericht, aber auch, wenn man sich das Video ansieht, der Täter gewillt, die Beamten zu töten. Zum Selbstschutz, aber auch um seine Kollegen zu schützen, musste der Polizist handeln.
Auch der SPIEGEL hatte sofort einen sogenannten Experten zur Hand, der den Einsatz kritisierte, zu einer Zeit, als noch kein Einsatzbericht der Polizei vorlag. „Das ist überhaupt nicht nachvollziehbar“, so der Jurist und Erziehhungswissenschaftler Thomas Feltes gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, was das Wochenmagazin übernahm.
Bei solchen Einsätzen sollte immer ein Psychologe oder Psychiater dabei sein“, ergänzte er. Der Einsatz zeige zudem, dass Pfefferspray und Taser oft nicht die erhoffte Wirkung zeigen. Pfefferspray habe bei psychisch Kranken sogar einen paradoxen Effekt: „Sie empfinden das als unmotivierten Angriff und starten einen Gegenangriff.“
Der gemeine Nicht-Experte, der dafür einen gesunden Menschenverstand zu bieten hat, ist zurecht verwirrt. Feltes ist offensichtlich gegen den Einsatz von Schusswaffen, aber auch gegen den Einsatz von Pfefferspray und Taser. Was ist die Alternative? Sich einfach erstechen zu lassen? Einen Psychologen einzusetzen klingt theoretisch gut, aber inwiefern ein solcher verfügbar ist und inwiefern dieser überhaupt Sinn macht, wenn der Täter kein Deutsch versteht, bleibt unklar.
Die Debatte erinnert an die Diskussion um den Würzburger Axt-Täter
Die Reaktion vieler Medien ist prototypisch und erinnert unweigerlich an Renate Künast. Als ein 17-Jähriger Afghane in einem Zug in Richtung Würzburg die Fahrgäste mit einer Axt angriff, twitterten die ehemalige Bundesministerin der Grünen: „Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden????“. Aufgrund der unkontrollierten Aggressivität des Täters blieb dem Polizisten nichts anderes übrig, als ihn zu erschießen.
Kleiner Einwurf: Der Autor dieser Zeilen wäre beinahe in diesem Zug gesessen; tatsächlich nahm ich einen anderen Zug in gleiche Richtung. In manchen Momenten merkt man, wie nah Terror sein kann, wie unverblümt er in ein Leben eintritt und alles auf einmal verändert. Um so abscheulicher sind Aussagen, wie die von Renate Künast, aber auch von sogenannten Experten und einseitigen Journalisten mit Herzen aus Holz.
Thomas Feltes, der sich um die Kriminologie bemüht – er ist also kein Experte für operative Polizeiarbeit – irrt, wenn er sagt, der Einsatz der Schusswaffe sei hier „nicht nachvollziehbar“. „Polizisten sollen als Grundregel eine Sicherheitsdistanz von mindestens sieben Metern zu einem Messerangreifer haben“, so Polizeiausbilder aus Kiel.
Innerhalb der sieben Meter bestehe bei einem Messerangreifer Lebensgefahr, erläuterte der Einsatztrainer von der Polizeidirektion für Aus- und Fortbildung und für die Bereitschaftspolizei Schleswig-Holstein. Bei geringerem Abstand könne man Messerangriffe nie unbeschadet überstehen. Pfefferspray könne erst zeitversetzt um einige Sekunden bei Angreifern wirken, da diese wegen ihres hohen Adrenalins zuerst kaum etwas merkten. Dies könne sogar für Schüsse gelten. Als polizeilicher Grundsatz gilt bei einem Abstand von weniger als sieben Metern: In Hochrisikosituationen wie eine Messerattacke ist der Einsatz der Dienstwaffe naheliegend, um sich selber zu schützen.
Der Schuldige steht fest: Er trägt Uniform
Doch um diese Details kümmern sich Viele nicht. Das stete Täter-Opfer-Umkehr-Narrativ muss gepflegt werden. Schuld war der „Bulle“, weil er „Bulle“ ist. Der, der in einer massiven Aggressivität den Polizisten erst dazu genötigt hat, sein Leben mit seiner Dienstwaffe zu schützen, ist das Opfer. Unser junger Gast aus der Fremde ist gefallen, und der alte, weiße Mann hat ihn erschossen. Stimmt erstmal das vorgefertigte Erzählmuster, dann hat das Weltbild Struktur. Wenn man jedoch darüber nachdenkt ist diese Haltung im Kern rassistisch. Ist der Senegalese automatisch Opfer, nur weil er Senegalese ist? Damit degradiert man Menschen; man spricht ihnen aufgrund der Herkunft ab, selbstverantwortlich zu handeln.
Es ist schon paradox: Ein Volk, das wie wenige ihren Staat, konkreter seinen Institutionen beinahe blind vertraut, verweigert bei Polizei und Militär jede Art von Solidarität. Diese selektive Wahrnehmung von Staatlichkeit mag einen tieferen Grund haben, der hier nicht geklärt werden kann. Im Falle des Einsatzes in Dortmund, der noch nicht abschließend aufgearbeitet ist, erzeugt diese Haltung ein Vorurteil, das vor allem einer Institution schadet: Der Polizei selbst.
Bildquelle:
- Polizei: dpa