Plant Brüssel einen „Regime-Change“ in Polen? Vom Kampf Europas gegen die Europäische Union

ARCHIV - Die Fahnen der Europäischen Union (EU) und von Polen am deutsch-polnischen Grenzübergang. Foto: Patrick Pleul/dpa

von PROF. DR. DAVID ENGELS

WARSCHAU/BRÜSSEL – Nach mehrmaligem Aufschub hat das polnische Verfassungsgericht am 7. Oktober endlich entschieden, daß dem Europäischen Gerichtshof (EUGh) in den Fällen, in denen er versucht, in die polnische Verfassung einzugreifen, kein prinzipieller Vorrang vor Letzterer einzuräumen ist, und damit den Weg für ernste Auseinandersetzungen zwischen Warschau und Brüssel geebnet. Diese folgenschwere Entscheidung ist nur die jüngste Etappe in dem langen und komplexen Kampf zwischen der konservativen polnischen Regierung und den linksliberalen europäischen Institutionen, die von Berlin und Paris bedingungslos unterstützt werden.

Seit 2015 ist Polen mit seinen westlichen Nachbarn zerstritten, nachdem es sich geweigert hatte, Zehntausende muslimischer Migranten aufzunehmen, die von Angela Merkel in die Europäische Union eingeladen worden waren. Neben der Migrationsfrage sind auch die Verschärfung der Abtreibungsgesetze sowie die Unterzeichnung der angeblich homophoben Familiencharta durch eine Reihe polnischer Gemeinden weitere wichtige Streitpunkte. Doch das problematischste Konfliktfeld ist die so genannte Justizreform.

In den letzten Wochen ihrer Amtszeit hatte die linksliberale Regierung von Donald Tusk im Voraus die Nachfolger jener Verfassungsrichter benannt, die erst in der nächsten Legislaturperiode in den Ruhestand gehen sollten. Eine Reihe von Skandalen brachte Tusk zu Fall, und 2015 wählte das Volk die jetzige, konservative Regierung, die verständlicherweise das Recht für sich beanspruchte, diese Nominierungen vorzunehmen. Dies führte zu einer vorübergehenden Verdoppelung bestimmter richterlicher Funktionen, zu starken internen politischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Richterschaft, zu wiederholten Versuchen der Regierung, die Situation durch eine Reihe von Gesetzen zu bereinigen, und zu einer scharfen Verurteilung Polens durch die EU und Berlin.

Rein formell gesehen hat die Justizreform lediglich versucht, die Mitspracherechte des polnischen Parlaments bei der personellen Zusammensetzung der hohen Richterschaft zu stärken und die politische Einflußnahme der Richter einzuschränken – wie es übrigens in zahlreichen anderen westlichen Ländern, vor allem in Deutschland, schon lange der Fall ist. Das Grundproblem hinter dem Streit Warschaus mit den europäischen Institutionen ist jedoch die Tatsache, daß diese Maßnahmen in der Praxis dazu führten, daß eine Reihe von Richtern mit bekannten linksliberalen Sympathien durch neue, von der konservativen Mehrheit ernannte Personen ersetzt wurden. Hierdurch wurden einflußreiche Cliquen geschwächt, die oft bis auf die Zeiten des Kommunismus zurückgehen, so daß die Rechtsreform von der derzeitigen polnischen Opposition unter dem ehemaligen polnischen Premierminister und Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, vehement angefeindet wurde, der in Brüssel und Berlin über erheblichen Einfluß verfügt und nun mit der Hoffnung auf ein neues Mandat auf die polnische politische Bühne zurückgekehrt ist.

Aber es geht bei dem Streit nicht nur um Personalpolitik, sondern auch und vielleicht vor allem um Werte: Als Polen der Europäischen Union beitrat, war es – ähnlich wie Großbritannien – davon überzeugt, daß dieses Projekt auf der gemeinsamen Achtung grundlegender gesellschaftlicher Institutionen wie der klassischen Familie, des Privateigentums, der nationalen Identität oder der abendländischen Zivilisation basierte. Doch die europäischen Eliten haben sich zunehmend linksradikalen Ideen wie Multikulturalismus, Gender Mainstreaming, LGBTQ-Ideologie, Globalismus, Schuldenkultur und westlichem Masochismus zugewandt. Unter Ausnutzung der dynamischen Offenheit des europäischen Rechtssystems, bekannt als „Méthode Monnet“, hat der Europäische Gerichtshof zunehmend vage Schlagworte wie „Vielfalt“, „Toleranz“, „Minderheitenschutz“, „Rechtstaatlichkeit“ oder „Gleichheit“ instrumentalisiert, um somit indirekt, undemokratisch und ohne jede Möglichkeit zum Appell allen Mitgliedstaaten unterschiedslos einen neuen Rechtsrahmen aufzuzwingen.

Die unvermeidlichen ideologischen Konflikte zwischen dem Linksliberalismus in Brüssel, Berlin und Paris und dem Konservatismus in Warschau, Budapest oder London werden dabei als juristischer Kampf zwischen einem angeblichen „Rechtsstaat“ und einem sogenannten „nationalen Populismus“ verschleiert.

Nachdem die Europäische Union vor einigen Wochen aufgrund der angeblichen Angriffe Polens auf die „europäischen Werte“ überraschend beschlossen hat, dem Land die zugesagten Covid-Fonds vorzuenthalten und damit Warschau offen zu erdrosseln, ist jedem klar geworden, daß nichts Geringeres als ein „Regime Change“ beabsichtigt ist, um eine der letzten Bastionen des Konservatismus in Europa zu zerstören. Die Weigerung des polnischen Verfassungsgerichts, den Vorrang des europäischen vor dem polnischen Verfassungsrecht anzuerkennen, war ebenso mutig wie alternativlos: Ein Einlenken hätte die totale Preisgabe all dessen bedeutet, was die derzeitige polnische Regierung aufgebaut hat, und hätte den Weg zu einer neuen Berlin-hörigen Tusk-Regierung und damit zu einer nicht enden wollenden Serie politisch motivierter Prozesse gegen alle hohen Vertreter der derzeitigen Mehrheit geebnet.

Wird diese Entscheidung ein weiterer Schritt in Richtung Polexit sein? Die meisten Polen, darunter auch die Regierung, wollen eine friedliche und immer engere gemeinsame Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn und fühlen sich als echte abendländische Patrioten. Aber die Dinge sind wohl an einem Punkt angelangt, an dem die EU als der schlimmste Feind des Abendlandes angesehen werden muß.

Bildquelle:

  • Flaggen: dpa

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