Gastbeitrag von STEFAN HARTMANN
ROM/MÜNSTER – 100 Jahre nach Romano Guardinis großem Wort „Die Kirche erwacht in den Seelen“ musste der emeritierte Papst Benedikt XVI. in einem zuerst im bayerischen „Klerusblatt“ (München) erschienenen Text zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche („Ja, es gibt Sünde in der Kirche“, Kisslegg 2019) das Gegenteil formulieren: „Die Kirche stirbt in den Seelen“ (ebd. 43). Nie war die Austrittswelle so hoch, der Gottesdienstbesuch so niedrig, nie das Image der Kirche und ihrer Vertreter derart ramponiert wie heute im Jahr 2022.
Natürlich wird ein Pauschalverdacht vielen unbescholtenen Priestern und Bischöfen nicht gerecht, aber die Liste der Versäumnisse ist allzu lang. Immer wieder haben in den vergangenen Jahren die Untersuchungen und Gutachten zum Missbrauch durch Kleriker großes Entsetzen hervorgerufen. Nach Köln und München hat nun auch Münster mit universitärer Unterstützung einen erschütternden Bericht vorgelegt, der zeitgleich mit zwei Buchtiteln der Verfasser im Herderverlag erschien.
Aber sehen diese Gutachter und deren Deuter wirklich den moraltheologischen und religionssoziologischen Gesamtzusammenhang? Sind sie nicht selbst Teile des deutschen Staatskirchensystems und damit „systemisch“? Werden viele Ergebnisse nicht instrumentalisiert, um den strukturellen Reformforderungen des von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) veranstalteten „Synodalen Weges“ zuzuarbeiten?
Dieser möchte zur Missbrauchsprävention Machtverhalten ändern, den Pflichtzölibat abschaffen, sowie das Frauenpriestertum und eine neue liberalere Sexualmoral, die homosexuelle Verbindungen der Ehe gleichstellt, einführen. Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer sprach in diesem Zusammenhang provokant von einem „Missbrauch des Missbrauchs“.
In einem aufschlussreichen Interview anlässlich seines 85. Geburtstages sagte der dem Milieu des Berufskatholizismus eher fernstehende Bonner Staatsrechtler Josef Isensee dazu unter anderem:
„Die Verurteilung des Missbrauchs Abhängiger hat sich gesellschaftlich durchgesetzt, aber das hat die Kirche mit ungeheurer Verspätung erkannt. Sie muss sich den moralischen Vorwurf gefallen lassen, dass sie das Opfer kirchlicher Macht schutzlos gestellt hat. Das ist auch der Grund, dass sich die Missbrauchsaffäre inzwischen in eine Bischofskrise verwandelt hat. Es ist kein Zufall, dass die Bischöfe, die lange Zeit all diese Dinge weggelogen haben, jetzt wo es ihnen an den Kragen geht, ihrerseits systemische Ursachen geltend machen. Somit wälzen sie ihre persönliche Verantwortung für unverantwortlichen Umgang mit Missbrauchstätern in den eigenen Reihen ab.“
Die Konzentration der Gutachten und ihrer Deutung auf „systemische Ursachen“ ist in der Tat der die Opfer empörende letzte Versuch einer Großvertuschung des Missbrauchs, für den nicht ein „System“ oder eine „Täterorganisation“, sondern kriminelle Einzelner verantwortlich sind: die einzelnen Täter und die jeweiligen Vorgesetzten, die sie duldeten oder nur versetzt haben. Ein solcher Einzelner war auch der bisher angesehene lateinamerikanische Adveniat-Bischof Emil Stehle, der nicht nur Missbrauchstäter in Ecuador und Peru aufnahm, sondern auch selbst des sexuellen Missbrauchs Jugendlicher beschuldigt wird. Die Namen anderer verantwortlicher Bischöfe gelten der cancel-Gesellschaft inzwischen als unehrenhaft und sollen getilgt werden. Hier darf es aber keine undifferenzierten Reaktionen geben.
Die Münsteraner Untersuchung hielt in indirekter Distanzierung vom emeritierten Papst Benedikt XVI., der die sexuelle Revolution der 1968er-Kulturwende mit ihren Tabubrüchen und Hemmungslosigkeiten für am Missbrauch mitschuldig ansah, fest, dass es vor 1968 mehr Missbrauchstaten als nach 1968 gab. Über die Höhe der Dunkelziffer vor und nach 1968 wurde dabei aber nicht reflektiert, auch nicht, dass lange Zeit viele Taten, die für prominente Grüne recht weit gingen, nicht mehr angezeigt wurden. Ratzinger wurde kritisiert, dass er diesen Zusammenhang benannte und dabei auch die Liberalisierung der katholischen Moraltheologie ansprach. Diese hat sich mit ihrem Wortführer, dem in Bonn lehrenden und von Ratzinger in seinem Text erwähnten Schweizer Franz Böckle (1921-1991), gegen die bisherige katholische Lehre von der „in sich boshaften Tat“, dem „intrinsice malum“, gewandt. Aber der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist ja (wie auch die Kindstötung einer Abtreibung) gerade eine solche „in sich böse Tat“, die per se die Exkommunikation nach sich zieht, die aber von der modernen Moraltheologie relativiert und erst 1993 mit der Moralenzyklika „Splendor veritatis“ von Papst Johannes Paul II. wieder klar benannt wurde. Parallel findet ein Bankangestellter, der in die Kasse greift, ja auch zurecht bei keiner Bank mehr eine Anstellung.
Ein Priester, der Minderjährige verführt und missbraucht, tötet nicht nur die Seele des Opfers, sondern hat dadurch auch die Seele seines Priestertums getötet und sein Priestertum für immer verwirkt. Das ist bis jetzt noch nicht deutlich genug gesagt worden. Sühne und Buße können ihn zwar selbst wieder zu Gott bringen, nicht aber sein verwirktes Priestertum wiederherstellen. Eine überzogene Interpretation der Lehre des augustinischen Antidonatismus, dass auch ein schwer sündhafter Priester gültig Sakramente spenden könne, muss vom Lehramt der Kirche beschnitten werden. Klerikale Missbrauchstäter und deren Protektoren („Vertuscher“) sollten fortan ipso facto alle priesterlichen Vollmachten und „Merkmale“ verlieren. Das würde Klarheit verschaffen und im so sehr irritierten Volk Gottes Anerkennung finden, denn „wer einen von den Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde“ (Mt 18,6). Haben also Papst und Bischöfe den Mut zu diesen lehrhaften und disziplinären Konsequenzen, die dann auch im Katechismus Aufnahme finden müssten?
Bildquelle:
- Dom_zu_Münster: bistum muenster