Mein Polen: Von einem deutschen Pilger mit „polnischer Seele“

von STEFAN MEETSCHEN

Wie die Zeit vergeht: Fast zehn Jahre lebe ich jetzt schon in Polen. Viel ist passiert. Politisch, kulturell, persönlich. Was mich am Anfang so sehr faszinierte, die baulichen Spuren der kommunistischen Zeit, die in sehenswerten Spielfilmen festgehaltene Atmosphäre der 1970er Jahre (Zanussi, Kieslowski, Wajda) tritt immer mehr zurück. Neue Häuser, neue Straßen, neue Fußwege – man sieht auf dem Land und in den Städten, dass mithilfe des EU-Geldes eine umfassende Modernisierung stattgefunden hat, stattfindet. Und natürlich auch aufgrund des polnischen Fleißes. Die polnische Wirtschaft, von Deutschen einst als Inbegriff des Chaos verspottet, boomt. Weder die Finanzkrise noch andere Beeinträchtigungen können ihr offenbar schaden.

Ich mag Polen, und ich mag die Menschen, die hier leben. Es haben sich im Laufe der Jahre viele gute Kontakte und vielleicht sogar Freundschaften ergeben. Was ja nicht selbstverständlich ist. Vor dem Hintergrund der Geschichte. Speziell die Nazis haben viel Leid und Zerstörung über Polen gebracht. Dass man die Deutschen trotzdem schätzt und sogar ein wenig bewundert, ist für mich eines der Wunder der polnischen Mentalität. Genauso wie ihre große Weltoffenheit. So wie in jeder Familie irgendein Widerstandskämpfer (Drittes Reich, Kommunismus) zu finden ist, hört man auch überall vom Opa, einer Tante oder jüngeren Familienmitgliedern, die ausgewandert sind oder zumindest eine Zeitlang im Ausland gelebt haben. Was die Deutschen seit Goethe so gern wären – Weltbürger – die Polen sind es wirklich.

Klar. Wenn man heute über Polen schreibt, muss man auch die nationalkonservative Regierung samt Präsident erwähnen, die in Deutschland schnell als Rechtspopulisten oder sogar Faschisten eingeordnet wurden. Ich muss sagen: Ich verstehe die Äußerungen und Entscheidungen von Herrn Kaczynski auch nicht immer und will seine Politik, also die Politik, die Premierministerin Beata Szydlo und Präsident Andrzej Duda umsetzen und vertreten, keineswegs verabsolutieren, doch eins kann ich sagen: Ich fühle mich in Warschau, wo ich mich oft aufhalte, derzeit sicherer als in Berlin, London, Paris oder Rom. Es gab hier bislang keine islamistischen Terror-Anschläge. So wie auch beim Weltjugendtag 2016 in Krakau Gott sei dank alles ohne Terror über die Bühne ging. Die Sicherheitskräfte haben eine sehr gute Arbeit geleistet. Oder ist das Faktum, dass Polen bisher von Attacken verschont wurde, der politischen „Abschottung“ zu verdanken? Dem Umstand, dass man hier der Merkelschen „Willkommenskultur“ von Anbeginn mit Skepsis bis hin zu ablehnender Distanz begegnet ist? Übrigens nicht nur bei PiS (Recht und Gerechtigkeit), sondern auch von Seiten der Bürgerplattform (PO), die der amtierende EU-Ratspräsident Donald Tusk viele Jahre geprägt hat.

Natürlich – werden jetzt manche Kritiker vielleicht sagen – die katholischen Polen, diese Nachfahren Jan Sobieskis, mögen keine Muslime, deshalb lassen sie diese generell nicht ins Land. Das stimmt nicht. Sie mögen schon und sie lassen schon, aber sie prüfen und wählen offenbar gründlicher aus, wer hier wie lange leben darf. Auch in meinem Fall ging das Prozedere eher langsam vonstatten. Eine Deutscher, der freiwillig nach Polen auswandert? Das fanden die Behörden, so mein Eindruck damals, verdächtig. Kommt da etwa wieder ein neuer Besatzer?

Dabei darf man nicht vergessen, dass Polen aus meiner Sicht nicht nur weltoffener, weil welterfahrener als wir Deutschen sind, die wir zumeist nur auf Touristen-Niveau die Welt kennenlernen, Polen hat eine lange multikulturelle und multireligiöse Tradition. Eine Tradition der Toleranz und Demokratie, die älter ist als die deutsche. Man informiere sich, falls man es bezweifelt, dazu bitte über die Königliche Republik, die sogenannte „Rzeczpospolita“, die von 1569 bis 1795 existierte.

Noch wichtiger scheint mir aber zu sein, dass bei den meisten Polen (Radikale nationale Spinner gibt es natürlich überall), ein gesunder Instinkt, ein gutes Gefühl für das richtige Verhältnis von Sicherheit und Freiheit, Tradition und Moderne, Weltbürgertum und Patriotismus existiert. Während wir Deutschen aufgrund eines ideologischen Idealismus uns die Wirklichkeit oft so geformt haben, wie wir sie gern hätten, besitzen unsere polnischen Freunde – bei allem Sinn für Wodka und Metaphysik – einen gesunden Realitätssinn. Bodenständigkeit. Aufgrund der langen Besatzungszeit (123 Jahre hat Polen dank der Russen, Preußen und Österreicher nicht existiert, dann kamen bekanntlich Nazis und Sowjets) scheint man in Polen sehr sensibel dafür zu sein, wem man Tore und Türen öffnet.

Wenn man sich aber als Gast einigermaßen gut benimmt, kann man in den Genuss der polnischen Gastfreundschaft kommen. Man begegnet im Land der schönen Frauen und des leckeren Bieres dann häufig einer Herzlichkeit und Großzügigkeit, von der wir Deutschen lernen können. Man begegnet auch einem europäischen Geschichtsbewusstsein und vielfältigen Wissen, das wirklich erstaunlich ist. Die Polen, jedenfalls die Vertreter der älteren Generation, kennen nicht nur ihre eigenen Dichter (Mickiewicz, Wyspianski, Sienkiewicz, Reymont, Singer, Milosz, Szymborska, Stasiuk) und Denker (Tischner, Kolakowski, Bauman), sondern auch die der anderen europäischen Nationen ausgesprochen gut. Und natürlich sind sie zu recht stolz darauf, dass die Ehrenbezeichnung „Gerechter unter den Völkern“, die in Israel seit fast 70 Jahren an Personen vergeben wird, die Juden vor der Ermordung durch die Nazis bewahrten, am häufigsten an Polen (gefolgt von Holländern und Franzosen) verliehen wurde. Mehr als 6.500 Polen sind mit diesem Ehrentitel ausgezeichnet wurden. Respekt.

Würde ich noch einmal nach Polen auswandern, wenn ich es könnte? Auf jeden Fall. Wobei ich mir mittlerweile auch vorstellen kann, längere Zeit in Großbritannien oder in Israel zu leben. Nicht weil es dort sicherer ist, aber um Neues zu entdecken. Irgendwie bin ich doch ein Nomade. Ein Wanderer. Ein Pilger. Aber offenbar einer mit einer „polnischen Seele“, wie man mir hier oft attestiert hat. Kein Widerspruch.

Bildquelle:

  • Danzig_Polen: pixabay

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