Mein Freund hat die Tinder-App

Liebe Leserinnen und Leser,

ich kenne C. erst seit einem Vierteljahr, wir haben uns erstmals auf einer Veranstaltung in Kroatien getroffen und kamen mehr zufällig über einen gemeinsamen Freund beim Abendessen ins Gespräch. Gestern Abend telefonierten wir uns auf einen Drink zusammen in Düsseldorf. Und wenn erwachsene Männer ins Gespräch kommen und einen Whiskey trinken, dann geht es nach einer halben Stunde nur noch um so Männersachen. Job, Geld und die eigene Ehe. Klingt nach Klischee, ist aber die Wahrheit. Ich bin sicher, 90 Prozent der männlichen Leser werden an dieser Stelle unwillkürlich nicken.

Mein neuer Freund ist ein wirklich guter Typ, witzig, beruflich erfolgreich und – wie man so sagt – aus’m Leben. Schnell erzählte er mir von seiner teuren Scheidung, und das nun langsam die Zeit für ihn gekommen sei, sich eine neue Lebenspartnerin zu suchen. Und klar, der christlich gesinnte Teil unserer Leser – und das sind nicht wenige – wird das missbilligen, aber darauf will ich nicht hinaus. Denn C. erzählte mir beim Rum aus Venezuela, dass er jetzt Dates habe mit Frauen, die er bei Tinder oder auch Instagram findet.

Tinder, wenn Sie das noch nicht gehört haben, ist eine Singlebörse, sagen wir, eine Weiterentwicklung der früheren Anzeigen am Schluss des Kleinanzeigenteils der Lokalzeitung. „Bekanntschaften“ stand dann drüber. Oder „Er sucht sie“ oder „Sie sucht ihn“. Tinder ist da, sagen wir, eine Weiterentwicklung für Menschen, die….nicht unbedingt…oder auch gar nicht…eine feste Partnerschaft suchen, sondern so etwas…Loses…Flüchtiges.

Vom moralischen Standpunkt für Menschen wie mich und sicher viele von Ihnen inakzeptabel. Aber: Auf dieser Dating-App suchen täglich 26 Millionen Menschen in aller Welt eine…Verbindung. 26 Millionen – da kann man schon mal hinschauen, was da los ist.

Man muss, habe ich eben nachgelesen, mindestens 18 Jahre alt sein, um da teilzunehmen. Und mein Freund erzählt mir, dass man da – Mann wie Frau – recht konkret aushandelt, was man so sucht, emotional ebenso wie visionär, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Tinder ist vielleicht auch kein gutes Beispiel, denn es gibt viele Singlebörsen, wo es klar um eine feste Partnerschaft geht. Manche paarshippen sogar. Und ich kenne mehrere hammerglückliche Paare, die sich über solche Singlebörsen gefunden, geheiratet und Kinder bekommen haben. Die schwören darauf, dass das wirklich gut und zielführend sei.

Ich erinnere mich dann an die alten Zeiten, als ich auf „Brautschau“ unterwegs war. Klassiker: Kino-Besuch. Tanzkurs war mir zu spießig. Wo lernte man damals eine Partnerin für was Festes kennen? Im Freundeskreis, auf Arbeit oder in der Disse, also Disko. Und jetzt Internet? Ganz ehrlich: Warum denn nicht?

Unser aller Leben hat sich rasant verändert, vieles ist anders geworden. Schneller, auch oberflächlicher. Aber nur, weil sich etwas verändert, muss man es nicht automatisch ablehnen. Oder?

Mit herzlichen Grüßen,

Ihr Klaus kelle

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Über den Autor

Klaus Kelle
Klaus Kelle, Jahrgang 1959, gehört laut Focus-online zu den „meinungsstärksten Konservativen in Deutschland“. Der gelernte Journalist ist jedoch kein Freund von Schubladen, sieht sich in manchen Themen eher als in der Wolle gefärbten Liberalen, dem vor allem die Unantastbarkeit der freien Meinungsäußerung und ein Zurückdrängen des Staates aus dem Alltag der Deutschen am Herzen liegt. Kelle absolvierte seine Ausbildung zum Redakteur beim „Westfalen-Blatt“ in Bielefeld. Seine inzwischen 30-jährige Karriere führte ihn zu Stationen wie den Medienhäusern Gruner & Jahr, Holtzbrinck, Schibsted (Norwegen) und Axel Springer. Seit 2007 arbeitet er als Medienunternehmer und Publizist und schreibt Beiträge für vielgelesene Zeitungen und Internet-Blogs.