Liebe Leserinnen und Leser,
die vergangenen Wochen haben an unseren Nerven gezerrt, das ist keine Frage. Die einen sind schockiert, dass es sowas wie Krieg überhaupt noch gibt. Andere ängstigen sich, weil es erstmals seit Jahrzehnten die reale Gefahr gibt, dass ein regionaler Konflikt, ein Krieg, über alle roten Linien schwappt und uns direkt erreichen kann. Es wird über den Einsatz biologischer Massenvernichtungswaffen gesprochen. Was ist das überhaupt für ein Wort? Massenvernichtungswaffen? Wir reden hier nicht über die Schädlingsbekämpfung auf unseren Feldern, sondern über Menschen…
Und der strategische Einsatz von Atomwaffen werde in Moskau erwogen, heißt es, wobei ich mich frage, wer das überhaupt wissen kann, was im Kreml gerade erwogen wird. Keiner von uns weiß es, aber meine Phantasie reicht nicht aus, anzunehmen, dass Herr Putin da gerade jetzt eine gute Zeit hat, während die wirtschaftliche Grundlage seines Staates, mühsam aufgebaut über viele Jahre, in Tagen den Bach heruntergeht.
Vor drei Wochen hätte ich, wenn Sie mich gefragt hätten, noch unsicher geantwortet auf die Frage, was die NATO, was wir, in so einem Fall tun würden, dass der Konflikt auch uns, Deutschland, direkt bedroht. Heute bin ich 100 Prozent sicher: Wenn Herr Putin diese letzte Grenze des Denkbaren auch noch überschreitet, dann wird er einen Albtraum erleben, den er sich vor dem Überfall auf die Ukraine nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen hätte vorstellen können.
Denn – und das ist ja das Erstaunliche in diesem ganzen Konflikt zwischen Russland und dem Westen – es ist kein Konflikt zwischen Ost und West, denn Osteuropa steht ja außer Serben ebenfalls geschlossen gegen den Kriegs-Verursacher in Moskau. Gut, es gibt noch Weißrussland, aber Lukaschenko wäre längst in einem Straflager ohne die Protektion des mächtigen Freundes im Kreml. Was soll der denn machen? Und trotzdem hält sich Belarus zurück, obwohl Russland die Eröffnung einer neuen Front fordert. Weil Lukaschenko nicht weiß, in welche Richtung seine Soldaten im Fall eines Eingreifen schießen würden.
Ich verfolge den ganzen Tag die Diskussionen in den Sozialen Netzwerken, auf Facebook, Twitter und GettR. Wann immer ich ein paar Minuten Zeit habe, beteilige ich mich und lasse mich beschimpfen. Gehört zum Job. Aber ich habe Mühe, rational nachzuvollziehen, wer da immer noch krampfhaft, verzerrt bis ins Lächerliche, versucht, den menschenverachtenden Angriff von Putins Armee auf das Nachbarland – das „Bruderland“, wie man das in Sonntagreden nennt – schönzureden und zu rechtfertigen.
Die Geschichte mit dem angeblichen „Faschisten“ Selenskyj – ein Jude, dessen Familie unter den Nazis schwer gelitten hat – ist so unfassbar blöde, dass sie inzwischen auch immer seltener kolportiert wird. »Wie kann ich ein Nazi sein? Erklären Sie das mal meinem Großvater, der den ganzen Krieg in der Infanterie der sowjetischen Armee mitgekämpft hat und als Oberst in einer unabhängigen Ukraine gestorben ist«, sagte der ukrainische Präsident in einer Videoansprache an das russische Volk jüngst. Drei Brüder seines Großvaters wurden im Holocaust ermordet. Acht Millionen Ukrainer sind im mörderischen Krieg der Nationalsozialisten ums Leben gekommen, sie alle haben Angehörige. Wie absurd, zu denken, dass die Ukraine aus lauter Nazis besteht, die man jetzt bekämpfen müsse, in dem man Krankenhäuser und Schulen mit Raketen beschießt.
Und Selenskyj sei ja eigentlich Komiker und Schauspieler. Ja und? Schauspieler war auch Ronald Reagan, und er ist bis heute einer der imposantesten und erfolgreichsten Präsidenten in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Welchen Beruf darf man denn haben, wenn man als Präsident kandidiert? Und wer legt das fest?
Selenskyj habe Millionen im Ausland, wird verbreitet, als ob das irgendwas damit zu tun hat, wie er sein Land in diesem krieg vereint und zusammenhält. Haben Sie die „Panama Papers“ noch in Erinnerung? Wo akribisch belegt wird, wie der russische Musiker Sergej Roldugin, ein enger Freund Putins, über Briefkastenfirmen Hunderte Millionen Dollars aus Russland weggeschafft hat. Roldugins Firmen besaßen Aktienoptionen für einige der wichtigsten Konzerne Russlands, über sie flossen Kredite in dreistelliger Millionenhöhe, und es wurden seltsame Geschäfte abgewickelt. Binnen weniger Jahre wurden, das zeigen die Daten, rund zwei Milliarden Dollar durch dieses Offshore-Geflecht geschleust. Nachzulesen im Detail hier Lesen Sie irgendwo etwas davon in den heißen Diskussionen dieser Tage? Kein Wort. Aber Selensyj hat Konten im Ausland… Kriegsführung durch Desinformation, aber eben auf dem Stand der 90er Jahre. Wie vieles, was man aus Russland hört.
Man hat so ein paar Facebook-Freunde, wo man denkt, das müssen wohl Roboter sein, Bots. Egal, was es an Schreckensmeldungen aus der Ukraine gibt, Putin ist immer der Gute. Ein feiner Kerl, so gebildet, und er spricht ja auch so kultiviert deutsch. Ja, und er lässt Schulen und Wohnhäuser bombardieren, ukrainische Flüchtlinge gegen ihren ausdrücklichen Willen nach Russland deportieren und Leute umbringen.
Und wer ist schuld an allem? Na, klar: die Amis. Die sind irgendwie immer schuld, obwohl Joe Biden auf für mich unerwartete und beeindruckendes Art und Weise den Westen in dieser dramatischen Situation zusammengeführt und zu konsequentem Handeln innerhalb von wenigen Tagen gebracht hat. Ohne dabei zu weit zu gehen, wenn Sie an die polnischen MIGs denken und die Diskussion über eine Flugverbotszone. Das war sehr klug und besonnen und alles andere als cowboymäßig oder kriegstreiberisch.
Vorhin schreibt mein Lieblings-Hobby-Analyst auf Facebook, die USA und die NATO und der Westen seien jetzt, abger dieses Mal wirklich, in echt und endgültig… erledigt. Russland werde sich nun mit Indien und China zusammentun, und wir würden dann alle untergehen. Ob China und Indien das schon wissen? Unwillkürlich frage ich mich: Gibt es synthetische Drogen, von denen wir bisher noch nichts wussten?
China und Indien, die kümmern sich darum, dass es ihren eigenen Ländern gut geht. Und das funktioniert, wenn sie sich mit den technologisch und wirtschaftlich relevanten Staaten und Wirtschafsträumen dieser Welt zusammentun. Wenn Sie China wären – würden sie die Beziehungen mit den USA und der EU aufgeben, um sich von Putin sagen zu lassen, wo es lang geht? Was hat Russland, was die Welt braucht, außer dem, was zufällig aus der Erde kommt wie Öl, Gas und Getreide?
Wussten Sie, dass Deutschlands Außenhandelsvolumen mit Belgien höher ist, als das mit Russland? Unsere Kinder hören amerikanische Rap- und Popmusik und tragen Jeans und Basecaps, wir kaufen bei Amazon, schauen Filme aus Hollywood, bei unseren Computern zu Hause haben wir die Wahl zwischen Betriebssytem von Apple oder dem von Microsoft? Beides USA. Facebook, Google, Twitter, WhatApp, Instagram – alles nicht wirklich russische Erfindungen, oder? Nie im Leben werden sich China, Indien oder auch Brasilien von Herrn Putin einwickeln lassen, selbst wenn ihnen die ungebrochene Dominanz der Amis und des Westens gegen den Strich gehen mag. Distanz ist legitim, aber Wohlstand und Sicherheit eintauschen gegen…dieses Russland?
Der Krieg Putins – wie immer er enden wird – hat genau das Gegenteil von dem bewirkt, was der Kreml mit seiner Aktion erreichen wollte. Es hat den Westen so entschlossen und stark gemacht, wie der seit Ende dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs nicht mehr gewesen ist. Jeder kann sehen, wer in diesem großen Konflikt der Gute und wer der Böse ist. Und wenn Sie sich nicht erinnern, dann schauen Sie noch mal bei Google das Abstimmungsergebis in der UN-Vollversammlung nach!
Ja, wir wollen immer mal gern dagegen sein, gegen das System und Rot-Grün und das Impfen und Annalena Baerbock. Alles legitim. Oft teile ich auch selbst solche Kritik. Und die Amis haben außenpolitisch und militärisch oft Fehler gemacht, auch Kriegsverbrechen begangen. Wer wollte das bezweifeln? Aber wer heute noch Putin feiert für den Wahnsinn, den er gerade in der Ukraine veranstaltet, und wer dem geschundenen ukrainischen Volk rät, sich jetzt „aus humanitären Gründen“ dem Führer in Moskau zu unterwerfen, den kann man wirklich nicht mehr ernstnehmen.
Hoffentlich endet dieser Krieg endlich.
Mit herzlichen Grüßen,
Ihr Klaus Kelle
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