Man nennt das Freiheit: Natürlich kann man Frau Netrebko feiern und gegen sie demonstrieren

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser!

In den (a)sozialen Netzwerken erregen sich Menschen darüber, dass gestern Abend vor der Berliner Staatsoper Unter den Linden gegen einen Auftritt der russischen Sopranistin Anna Netrebko demonstriert wurde. Weil sie gleichzeitig eine international bekannte und überragende Sängerin ist aber eben aus Russland stammt, das einen unsinnigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, dem bisher mehr als 200.000 Menschen – Russen wir Ukrainer – zum Opfer gefallen sind. Von der Vernichtung von Milliardenwerten, vergewaltigten Frauen, verschleppten Kindern und den unzähligen Verkrüppelten ganz zu schweigen.

Trägt Frau Netrebko dafür Verantwortung? Natürlich nicht. Und noch viel besser: sie hat sich unmissverständlich von Putins Wahnsinn in der Ukraine distanziert.

«Ich verurteile den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich, und meine Gedanken sind bei den Opfern dieses Krieges und ihren Familien»

Das ist ein klares Statement. Und dass sie vor dem Krieg gern den Kontakt mit Wladimir Putin pflegte und auf vielen gemeinsamen Fotos zu sehen ist, das dürfte ihr inzwischen selbst unangenehm sein.

Anna Netrebko ist eine überragende Ausnahmekünstlerin. Muss man sie in Mithaftung für den Irren im Kreml und seine Taten nehmen? Ich denke nicht. So ist es absolut in Ordnung, dass die Berliner Staatsoper Frau Netrebko für vier Abende engagiert hat. Für die Rolle der machthungrigen Lady Macbeth. Der erste Abend war mit 1400 Plätzen restlos ausverkauft, das Publikum feierte die überragende Künstlerin – ob Russin oder von sonstwo her, das war völlig egal dabei.

Und genau das ist das, was die Putin-Fanboys und -girls nicht begreifen: In einer Demokratie darf man sich anschauen, jubeln und auch demonstrieren für wen und gegen wen man will. Und es ist wunderbar, dass das Berliner Publikum durchaus unterscheiden kann, zwischen dem Psychopathen im Kreml und seinen Taten auf der einen Seite und der Ausnahmekünstlerin auf der anderen. So wie es übrigens auch gut ist, dass gestern zwei Russen und eine Amerikanerin mit einem Raumschiff gemeinsam zur ISS geflogen wurden. The Show must go on…

Vor der Aufführung in der Staatsoper demonstrierten gestern Abend 150 Berliner gegen Russlands Gemetzel in der Ukraine. Viele blau-gelbe Fahnen wurden geschwenkt. Auch das ist zulässig und gewünscht in einem freien Land. Hätte gestern Abend ein ukrainischer Tenor in einem Moskauer Schauspielhaus auftreten dürfen? Hätten dort die Menschen im Theater den Ukrainer frenetisch feiern dürfen, während gleichzeitig draußen friedlich demonstriert werden konnte. Unvorstellbar.

Und das ist eben der Unterschied zwischen einer Demokratie und einem Unrechtsstaat, zu dem dieses Russland unter dem Despoten Putin geworden ist. Mögen Gesellschaften wie Deutschland noch so schwach erscheinen, so wirr (besonders bei manchen Wahlergebnissen) und wankelmütig. Wir sind noch frei, in dem, was wir tun können. Das muss nicht so bleiben, die Freiheits-Kurve zeigt nach unten, missliebige Geister werden drangsaliert, an den Rand gedrängt, abgehört und bei manchen kommt nachts das SEK durch die Haustür. Aber in Russland leben? Schönen Dank auch!

So lange all die wackeren Netrebko-Verteidiger im Internet unfähig sind, selbst ihren Satz nochmal zu formulieren «Ich verurteile den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich, und meine Gedanken sind bei den Opfern dieses Krieges und ihren Familien»<, so lange brauche wir keine Belehrungen, wen wir einladen, feiern oder gegen wen wir demonstrieren dürfen.

Schönes Wochenende!

Ihr Klaus Kelle

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Über den Autor

Klaus Kelle
Klaus Kelle, Jahrgang 1959, gehört laut Focus-online zu den „meinungsstärksten Konservativen in Deutschland“. Der gelernte Journalist ist jedoch kein Freund von Schubladen, sieht sich in manchen Themen eher als in der Wolle gefärbten Liberalen, dem vor allem die Unantastbarkeit der freien Meinungsäußerung und ein Zurückdrängen des Staates aus dem Alltag der Deutschen am Herzen liegt. Kelle absolvierte seine Ausbildung zum Redakteur beim „Westfalen-Blatt“ in Bielefeld. Seine inzwischen 30-jährige Karriere führte ihn zu Stationen wie den Medienhäusern Gruner & Jahr, Holtzbrinck, Schibsted (Norwegen) und Axel Springer. Seit 2007 arbeitet er als Medienunternehmer und Publizist und schreibt Beiträge für vielgelesene Zeitungen und Internet-Blogs.