von THILO SCHNEIDER
DÜSSELDORF – Stellen Sie sich vor, es ist so ziemlich der wichtigste Tag Ihrer schulischen Laufbahn. Sie sind 19 Jahre alt und haben sich wenigstens 12 Jahre durch die Schule geboxt (also, nicht wortwörtlich, außer in Berlin und Bremen). Alles, was Sie je gelernt haben, je erarbeitet haben, jede Gruppenarbeit von „wie Du richtig einen Tisch deckst“ bis hin zu „Beschreiben Sie den divergenten Anachronismus im Bezug auf gendergerechte Sprache im Spätwerk Herbert Achmed Bumsziegels mit dem Titel „Bananen im Schlafrock“ und verwenden Sie hierzu wenigstens 20 Seiten (Tahoma, 11er Schriftgröße)“, kulminiert auf diesen einen Tag. Sie haben nächtelang nicht geschlafen, Sie haben gelernt, allein und in der Gruppe, vielleicht noch mit dem Lehrer um einen halben Punkt auf eine Art gefeilscht, mit der Sie auf dem Istanbuler Basar eine hochbezahlte Spitzenfachkraft wären.
Und da sitzen Sie nun: In der verdammten Turnhalle, in der Sie Ihre größten Erfolge oder Ihre blamabelsten und traumatisierendsten Niederlagen erlebten. Links auf dem Tisch haben Sie einen kitschigen Glücksbringer platziert, rechts Ihre Schreibutensilien, etwas Saft und ein wenig vegetarischen Knabberkram. Sie waren noch einmal auf dem Klo. Sie haben feuchte Hände und sind nervös. Gleich geht sie los, die Abi-Prüfung. Okay. Sie sind bereit. Los geht’s. Hurtig. Lasst uns anfangen. Dalli.
Und dann tritt Konrektorin und Generalstudienrätin Irmgard Glöckler-Schmalz vor Sie und Ihre Mitschüler hin und erklärt Folgendes: „Herzlichen Glückwunsch und willkommen zu Ihrer Abiturprüfung. Wir würden Ihnen heute gerne die Abituraufgaben austeilen, allerdings hat sich ein winzig kleines technisches Problem ergeben: Wir haben heute keine Aufgaben für Sie. Das ist, weil, also, es ist so, dass wir die Aufgaben von einem streng geheimen CIA-Server herunterladen müssten und das hat, halten Sie sich fest, nicht so gut funktioniert.
Also, es hat, offen gestanden, gar nicht funktioniert
Wir haben es dann mit dem Sicherungsserver ausprobiert, aber, was soll ich Ihnen sagen? Lange Rede, kurzer Sinn: Das hat auch nicht funktioniert.“ Raunen im Saal. „Ja, ich weiß, was Sie jetzt denken: Seit 13 Jahren schikanieren und kujonieren wir Sie und jetzt sollen Sie EIN MAL ein Abitur machen und dann haben wir die Aufgaben nicht. Ich kann Ihnen versichern, dass wir im Moment alles tun, damit Sie und wir an die Aufgaben kommen. Just in dieser Sekunde befinden sich Oberstudienrat Götzelmann und Hauptfeldstudienrätin Baumgärtner-Lang mit USB-Sticks auf dem Weg ins Herbert-Fröhn-Gymnasium, weil dort die Downloads geklappt haben.
Oh, Entschuldigung, da muss ich ran: Was? Nein? Hat auch nicht geklappt? Fehler 404? Was bedeutet „Fehler 404“? Ja, was soll ich jetzt den Schüler*Innen sag… Ja, ich kann ja auch nichts dafür. Ja, bis später.
Ja, das hat jetzt auch nicht geklappt. Ich würde sagen, Sie packen jetzt erst einmal zusammen und wir gehen in die Aula und schauen uns ein Youtube-Video zum Klimaschutz an. Das ist ja auch wichtig. Nein, das ist Pflicht. Eine Abi-Prüfung ist, selbst wenn sie nicht stattfindet, ein ganz normaler Schultag. Ich will da jetzt auch nicht mit Ihnen diskutieren! Zusammenpacken und Abmarsch. Der Hausmeister hat das schon vorbereitet, da wird jetzt auch nicht palavert und gemault. Sonst können wir keine Abiturprüfung mehr mit Euch machen!“
Gell, Sie kämen sich in der achtgrößten Industrienation der Welt und der (noch) größten Industrienation Europas ganz schwer auf den Arm genommen vor?
Sie, der Sie die künftige intellektuelle Elite und wissenschaftliche Speerspitze dieses Lands (außer Berlin und Bremen) sein sollen, scheitern bereits in der ersten Prüfung an der Unfähigkeit des Bildungssystems in NRW. Die Abiturprüfung in einer Weise elektronisch bereit zu stellen, die es Ihrer Schule ermöglicht, diese herunterzuladen und an Sie weiterzugeben, war einfach zu schwierig. Neuland. Es wäre tatsächlich schlauer und effektiver gewesen, das Kultusministerium hätte berittene Boten mit den Prüfungen in alle Winde und an alle Schulen zerstreut, damit die Prüfungsunterlagen rechtzeitig ankommen.
Herzlich willkommen also zu Ihrer nicht stattfindenden Abiprüfung. Sie sind in Deutschland. Gewöhnen Sie sich schon einmal die nächsten 60 Jahre daran, dass hier alles nur noch so „mittel“ funktioniert. Sollten Sie sich also weiterqualifizieren, dann rate ich Ihnen, die Beine in die Hand zu nehmen und in ein anderes Land zu verschwinden, das sich nicht zum „failed state“ entwickelt und in dem es über kurz oder lang nicht zu einem Bürgerkrieg zwischen denen, die ein bisschen was haben und denen, die gar nichts haben, kommen wird.
Laufen Sie, so weit Sie können! Suchen Sie sich einen Platz, auf dem Ihnen der suboptimal funktionierende Staat nicht 50% Ihres Einkommens dafür stiehlt, um bestenfalls auf (ökologisch einwandfreier) Sparflamme zu laufen.
Oder vergessen Sie das Abitur, lassen Sie sich durchnudeln, werden Sie TicToc-Star oder entdecken Sie Ihre transsexuelle Seite oder beides und singen Sie Dieter Bohlen etwas vor. Das geht auch.
Aber, wenn Sie clever sind, gibt es eben nur einen einzigen Rat: Run!
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Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.
Bildquelle:
- Unterricht am Gymnasium: dpa