von CARSTEN HOEFER
MÜNCHEN – Im Wirecard-Skandal nimmt die Klagewelle geprellter Gläubiger und wütender Aktionäre immer größere Formen an.
Der britische Prozessfinanzierer Litfin hat mittlerweile die Ansprüche von 20.000 Wirecard-Geschädigten gesammelt und bereitet Klagen vor, «überwiegend» gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, wie das Unternehmen auf Anfrage mitteilte. Litfin prüft demnach auch Klagen gegen die Wirecard AG und deren ehemalige Vorstände. Beauftragt ist die internationale Großkanzlei Pinsent Masons.
«Wir freuen uns, dass aufgrund des großen Interesses unsere Finanzierungsschwelle bereits überschritten wurde», heißt es bei Litfin. EY hatte die mutmaßlich seit etlichen Jahren gefälschten Wirecard-Bilanzen geprüft, das Testat aber erst für die Bilanz 2019 verweigert. Die Münchner Staatsanwaltschaft geht beim insolventen Wirecard-Konzern von «bandenmäßigem Betrug» aus und beziffert den mutmaßlichen Schaden für Banken und andere Geldgeber auf über drei Milliarden Euro.
EY Deutschland sitzt in Stuttgart, doch zentraler Schauplatz der zivilrechtlichen Auseinandersetzungen wird wohl ebenfalls München werden. Beim Landgericht Stuttgart sind bislang 280 Klagen von Wirecard-Anlegern gegen EY eingegangen, die rund 42 Millionen Euro Schadenersatz fordern, wie eine Gerichtssprecherin sagte.
Doch die Stuttgarter Richter haben unter Verweis auf die Zivilprozessordnung bereits 140 dieser Verfahren nach München verwiesen. Bei den übrigen Klagen prüft das LG Stuttgart ebenfalls die Zuständigkeit. In München sind nach Angaben von EY mittlerweile sechs Klagen gegen die Gesellschaft abgewiesen worden, eine Bestätigung des Gerichts dafür gab es nicht.
Anders als eine Anwaltskanzlei streckt ein Prozessfinanzierer Gerichts- und Anwaltskosten vor. Bei erfolgreichen Klagen verlangen die Finanzierer dann eine hohe Provision. Üblich sind 30 Prozent.
Etablierte Kanzleien – für die Prozessfinanzierer eine Konkurrenz sind – warnen vor schwarzen Schafen. «Geschädigte Anleger müssen vorsichtig sein und genau hinsehen, ob die Prozessfinanzierungsgesellschaft überhaupt genügend Kapital hat, Prozesse zu bezahlen», sagt der Münchner Anwalt Peter Mattil, der selbst Wirecard-Anleger vertritt.
«Es gibt Prozessfinanzierer, die sammeln 20.000 oder 30.000 Leute ein und tun dann überhaupt nichts für ihre Kunden. Die warten lediglich den Ausgang eines Musterverfahrens ab, um sich daran anzuhängen», sagt Mattil. Es habe schon Fälle gegeben, in denen Finanzierer noch nicht einmal den Gerichtskostenvorschuss hätten bezahlen können und deswegen Insolvenz angemeldet hätten.
Im Wirecard-Skandal hat auch die Anlegergemeinschaft SdK ihren Mitgliedern den Weg über den Prozessfinanzierer Litfin empfohlen. «Litfin waren die einzigen, die auch Kleinanlegerklagen finanzieren», sagt der SdK-Vorsitzende Daniel Bauer. Denn üblicherweise steigen Prozessfinanzierer nur ein, wenn es um große Beträge geht. «Schadensummen ab 1 Million Euro oder gar 10 Millionen Euro», wie Bauer sagt. Überzeugend bei Litfin sei vor allem die Wahl der international tätigen Kanzlei Pinsent Masons gewesen.
Prozessfinanzierung gibt es in Deutschland seit über 20 Jahren, doch ein großes Wachstumsgeschäft wurde daraus lange nicht. Mittlerweile jedoch nimmt nach Einschätzung von Fachleuten die Zahl der Prozessfinanzierer zu.
Und das beschäftigt auch Versicherer wie die Allianz, die ehedem kurzzeitig selbst Prozessfinanzierung betrieb. «Durch die Prozessfinanzierer erhöht sich aus unserer Sicht das Risiko in Deutschland erheblich, dass Unternehmen mit Klagen konfrontiert werden», sagt Stephan Geis. Der Manager leitet beim Allianz-Industrieversicherer AGCS die «Financial Lines» für Zentral- und Osteuropa.
«Mit der Einschaltung von Prozessfinanzierern können sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen Prozesse führen, die sie wegen des Kostenrisikos und Zeitaufwands sonst nicht führen würden», sagt Geis. «Weil die Finanzierer die Prozessrisiken übernehmen, ist ganz klar zu erkennen, dass die Prozessbereitschaft auf Klägerseite steigt.» Die Folge für Versicherungen ist, dass sie häufiger einspringen müssen, wenn die Klageneigung gegen ihre Firmenkunden steigt.
Prozessfinanzierer wie Litfin führen quasi identische Argumente ins Feld – doch aus entgegengesetztem Blickwinkel. Prozessfinanzierer füllten in vielen Fällen «eine wichtige Lücke», sagt ein Litfin-Sprecher. «Denn viele Mandanten von Anwaltskanzleien oder Geschädigte im Allgemeinen benötigen jemanden, der ihren Prozess finanziert, da sie dies aus Mangel an Ressourcen nicht selbst können oder wollen.»
Im Fall Wirecard jedenfalls wächst die Zahl der Klagewilligen offenkundig nach wie vor, fast ein Jahr nach der Insolvenz: Das Finanzierungsangebot für Geschädigte sei weiter offen, sagt der Litfin-Sprecher – «und wir erhalten täglich eine Vielzahl neuer Anfragen von Interessenten».
Bildquelle:
- Wirecard: dpa