Kein Kreuz für den Kardinal

von PETER WINNEMÖLLER

MÜNCHEN – Was bleibt von einem Mann, dem der Ruf voraneilt, standhaft wie eine westfälische Eiche zu sein und der sich anschickte, die Weltkirche zu erobern?

Nach Protesten von Betroffenen des sexuellen Missbrauchs bat der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Kardinal Marx, den Bundespräsidenten gebeten, auf die geplante Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz zu verzichten. Schadenfreude in sozialen Netzen, er brauche kein Kreuz, er habe es in Jerusalem ja bereits abgelegt, sagt vielleicht mehr über unsere Debattenkultur als über den Kardinal.

Auch wenn das auf die Karriere des Erzbischofs von Freising und München und Kardinals der Römischen Kirche im Grunde keinen Einfluss hat, ist es dennoch ein Knick, ein Beben in einer beeindruckenden Biografie. Im Jahr 1953 wurde der Sohn eines Schlossermeisters in der westfälischen Kleinstadt Geseke geboren. Er war Ministrant in der Stiftskirche in Geseke, legte 1972 sein Abitur am Antonianum in Geseke ab. Es folgten Studienjahre in Paderborn, Paris, Münster und Bochum. Nach Theologiestudium und Priesterseminar empfing Reinhard Marx 1979 die Priesterweihe von Erzbischof Degenhard. Es folgte eine Vikarszeit im hessischen Arolsen und die Promotion zum Dr. theol. in Bochum. Mit einer sozialwissenschaftlichen Arbeit war der Grundstein für den nächsten Schritt auf dem Weg gelegt, der im Jahr 1989 nach Dortmund führte. Marx wurde Direktor des Sozialinstituts Kommende Dortmund. Sieben Jahre später ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Weihbischof im Erzbistum Paderborn. Kurz zuvor hatte ihn Erzbischof Degenhard zum außerordentlichen Professor für Christliche Gesellschaftslehre an die Theologische Fakultät Paderborn berufen. Die Professur übte der Weihbischof neben seinen Aufgaben im Bistum weiterhin aus.

Die nächsten Schritte führten den umtriebigen Priester zunächst im Jahr 2001 als Bischof nach Trier und schon sechs Jahre später im Jahr 2007 als Erzbischof nach München und Freising. Der Erzbischof von München und Freising ist zugleich Vorsitzender der Freisinger Bischofskonferenz. Im November 2010 nahm ihn Papst Benedikt XVI. als Kardinalpriester mit der Titelkirche San Corbiniano in das römische Kardinalskollegium auf. In den Jahren 2012 bis 2018 war er Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE). Seit April 2013 ist er Mitglied des Kardinalsrates, der Papst Franziskus in Fragen der Kurienreform beraten soll. Ferner gehört der Kardinal in Rom dem Päpstlichen Rat für die Laien, der Kongregation für das Katholische Bildungswesen dem Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, der Kongregation für die orientalischen Kirchen und dem Päpstlichen Wirtschaftsratssekretariat, dessen Kardinal-Koordinator er seit 2020 ist. Zudem ist der Kardinal Großprior der deutschen Statthalterei des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem.

Von 2014 bis 2020 war er Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Hinzu kommen zahlreiche Mitgliedschaften in Verbänden und Vereinen. Nicht zu vergessen die Mitgliedschaft im Schützenverein St. Sebastianus in Geseke. Der Kardinal lässt es sich nicht nehmen, regelmäßig an den Schützenfesten teilzunehmen, die Schützenmesse zu feiern und an Umzügen und Festveranstaltungen teilzunehmen. Hier darf seine Eminenz für drei Tage im Jahr „der Reinhard“ sein. Nicht wenige haben sich zu Recht gefragt, wie ein Einzelner diese Fülle an Ämtern und Aufgaben bewältigen kann. Er reagierte, indem er Aufgaben abgab. Das Nachbeben seiner Amtszeit als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz spürt die Kirche in Deutschland im synodalen Weg von Bischofkonferenz und Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Derzeit sieht das nicht nach einer Erfolgsgeschichte aus.

Der junge Weihbischof in Paderborn galt als der konservative Vorzeigebischof. Dies schien er als Bischof in Trier schleunigst zu bestätigen. Im Jahr 2003 suspendierte der Bischof den Theologen Gotthold Hasenhüttl und verweigerte der Ethikerin Regina Ammicht Quinn das nihil obstat für eine Professur im Saarland. Nach dem Umzug nach München sowie nach der Wahl von Jorge Maria Bergoglio zu Papst Franziskus vollzog der Kardinal eine inhaltliche Wende hin zu eher progressiven Positionen. Insbesondere in moraltheologischen Fragen modifizierte der Kardinal seine Haltungen teilweise in das Gegenteil seiner früheren Ansichten.

Mehrfach stellte sich der Kardinal gegen Entscheidungen aus Rom, was noch in seiner Zeit in Paderborn undenkbar gewesen wäre. So erzwang er noch als Vorsitzender der DBK vom Papst die Erlaubnis zur Veröffentlichung einer Arbeitshilfe zur Pastoral an Geschieden-Wiederverheirateten, deren Veröffentlichung zuvor von der Glaubenskongregation untersagt worden war. In der jüngsten Auseinandersetzung um die von Rom untersagte Segnung homosexueller Partnerschaften, monierte der Kardinal im Interview mit der Zeitung Publik Forum, Bischöfe seien nicht einfach der verlängerte Arm der Glaubenskongregation. Nicht nur in Fragen der Lehre auch in Fragen der Disziplin kommt mit dem Alter die Neigung zur Rebellion.

Der Kardinal wird in zwei Jahren das 70. Lebensjahr vollenden. Für mindestens sieben Jahre wird er folglich noch seinem Bistum vorstehen und auch weltkirchlich als Kardinal in der Kurie mitwirken und mitgestalten. Die Offenlegung von sexuellem Missbrauch, den Kleriker an Minderjährigen verübt haben, hat eine Welle in der Kirche ausgelöst, die die ohnehin krisenhaften Strukturen zusätzlich erheblich erschüttert hat. Jüngst war es exakt ein solches Beben, das eine Ordensverleihung an diesen Bischof und Kardinal verhindert hat.

Ausgerechnet der einstmals Vorzeigekonservative erntet nach seiner Umkehr zum Reformer und Aufklärer die Früchte seiner mutmaßlichen Versäumnisse aus der Vergangenheit. Ein Ende ist noch nicht abzusehen.

Will man den Weg des kleinen Messdieners aus Geseke, der sich, wie er 2013 im Interview sagte, auch erst mal kneifen musste, um glauben zu können, dass er als Kardinal ins Konklave einzieht, gerecht beurteilen, muss man die krisenhafte Struktur der Kirche in Deutschland, Europa und weltweit betrachten. Auch Kardinäle, als Spitzenkräfte der Kirche, sind Kinder der Kirche ihrer Zeit. Was man gegen Ende der 70er Jahre in Westfalen und anderswo als sicher glaubte und bekannte, hat in der Post68er-Zeit erhebliche Erschütterungen erfahren und ist fast vollkommen weggeweht worden. Die Volkskirche in der der Kardinal als Kind und Jugendlicher sozialisiert wurde, die dem Seminaristen Sicherheit gab und die Karriere ermöglichte, existiert nicht mehr. Auch das ist zu bedenken, will man gerecht bleiben.

Was bleibt von der westfälischen Eiche in Bayern? Vielleicht ein Kirchenmann, der Einsichten in Fehler zeigt? So teilte Marx mit, er habe sich für die Untersuchung eines Missbrauchsfalls aus seiner Zeit als Bischof von Trier ausgesprochen. Für ihn sei klar: Auch Unwissenheit bei falschem Handeln bzw. Unterlassen verhindere nicht, dass Verantwortung und auch Schuld vorliegen und übernommen werden müssen.

Bildquelle:

  • Bundesverdienstkreuz: land baden-württemberg

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