von STEFAN KRUSE
BERLIN – 105 Wählerstimmen könnten über die politische Zukunft von Berlins Regierender Bürgermeisterin Franziska Giffey entscheiden. So viele Stimmen lag ihre SPD bei der Wiederholungswahl am Sonntag vor den Grünen und somit auf Platz zwei. Giffey hätte damit die Möglichkeit, das seit 2016 gebildete und nach der Pannenwahl 2021 erneuerte rot-grün-rote Bündnis unter SPD-Führung fortzusetzen und Rathauschefin zu bleiben. Grüne und Linke sind ebenfalls nicht abgeneigt.
Doch da war ja noch was: Denn strahlender Wahlsieger ist die CDU, die mit 28,2 Prozent fast zehn Prozentpunkte vor SPD und Grünen (je 18,4 Prozent) liegt. «Berlin hat den Wechsel» gewählt, sagte CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner und kündigte an, noch am selben Tag Einladungen für Sondierungsgespräche an SPD und Grüne zu verschicken. «Der jetzige Senat mag noch über eine rechnerische Mehrheit im Abgeordnetenhaus verfügen, politisch hat er die Mehrheit gestern verspielt», betont der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz.
SPD steht «unter Schock»
Wer also mit wem? Vieles hängt am Ende von der SPD ab, die bei der Wahl ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei einer Berliner Abgeordnetenhauswahl einfuhr. Selbstreflexion und womöglich Selbstzerfleischung bei gleichzeitiger Suche nach Machtoptionen: Das Agieren der SPD in den kommenden Tagen und Wochen könnte schwer berechenbar sein.
Giffeys ernster Miene am Montag beim obligatorischen Termin in der Bundesparteizentrale war es anzusehen: In ihr brodelt es, und in ihrer Partei auch. Ratlosigkeit herrscht allerorten. «Wir stehen unter Schock», sagte ein führender Sozialdemokrat. «Wer jetzt weiß, wie es weitergeht, der hat meine Bewunderung.»
In der einstigen Volkspartei, die traditionell eher links tickt, gibt es viele Sympathisanten für Rot-Grün-Rot. «Die Mehrheit in der Partei steht emotional hinter diesem Bündnis», glaubt ein Vorstandsmitglied. Andere fühlten sich der CDU näher als Grünen und Linken. Am Montag waren auch Stimmen zu vernehmen, die einen Gang der jahrzehntelang regierenden Partei in die Opposition für diskussionswürdig halten.
Fortführung der Regierungsverantwortung möglich?
Giffey selbst ließ sich im Machtpoker nicht in die Karten schauen. «Wir sind im Wahlkampf angetreten, damit das Rote Rathaus rot bleibt», sagte sie. «Wir werden natürlich auch Gespräche führen, die ausloten, inwieweit so eine Fortführung möglich ist.» Mit der CDU werde ihre Partei ebenfalls sprechen, deren Einladung annehmen, so Giffey. Die SPD wolle als Zweitplatzierter der Wahl «eine starke und auch eine führende Rolle bei der Regierungsbildung» einnehmen.
Allerdings zeige das Wahlergebnis, dass sich die Menschen Veränderung wünschten, so Giffey. Die SPD wolle daher eine «Veränderungsagenda». Als vier Punkte dieser Agenda nannte Giffey Innere Sicherheit, Wohnungsbau, Verkehrspolitik und Verwaltungsreform. Das darf durchaus als Warnung an Grüne und Linke verstanden werden, die in den Punkten zuletzt andere Positionen als die SPD vertraten, die hier wiederum teils auf CDU-Linie liegt. Sollte das rot-grün-rote Dreierbündnis weiterbestehen, müsse der 2021 ausgehandelte Koalitionsvertrag in diesen Punkten ergänzt werden, so Giffeys Botschaft.
Jarasch schließt nichts aus, zieht aber Rot-Grün-Rot vor
Noch kann die CDU also auf die SPD als möglichen Koalitionspartner hoffen – aber womöglich nur, wenn eine Neuauflage von Rot-Grün-Rot scheitert. Doch auch die Grünen mit ihrer Spitzenkandidatin Bettina Jarasch, die erklärtermaßen am liebsten mit SPD und Linken weitermachen würden, kämen theoretisch in Frage.
Zwar hatten die Spitzenleute Wegner und Jarasch im Streit um grüne Projekte wie Tempo 30 oder Wegfall von Parkplätzen im Wahlkampf viel Porzellan zerschlagen. Doch Jarasch schloss eine Koalition mit der CDU am Montag ausdrücklich nicht aus – ohne Mobilitäts- und Wärmewende oder klimaneutralen Stadtumbau gehe da freilich nichts. Sie sei «sehr gespannt» auf die Sondierungsgespräche mit der CDU.
Koalition ohne Wahlsieger? «Ganz normales politisches Gebaren»
Alle drei Parteien haben also noch weite Wege zu gehen, um – in welcher Konstellation auch immer – zusammenzukommen. «Es werden sehr lange Gespräch», prognostizierte Giffey. Dass der Wahlsieger, der die stärkste Fraktion stellt, am Ende leer ausgeht, weil Koalitionen an ihm vorbei geschmiedet werden, hat es in Deutschland immer mal wieder gegeben. Ole von Beust (CDU) 2001 in Hamburg, Winfried Kretschmann (Grüne) 2011 in Baden-Württemberg und Bodo Ramelow (Linke) 2014 in Thüringen kamen zum Beispiel so an die Macht.
«Das ist ein ganz normales politisches Gebaren», sagte Giffey dazu. Zur Frage, was aus ihr selbst wird, wenn sie sich am Ende nicht im Rathaus halten kann, äußerte sie sich indes nicht.
Wer auch immer künftig in Berlin regiert, hat viele Herausforderungen zu bewältigen. Hohen Mieten, fehlende Wohnungen, Klimaschutz, Verkehrsprobleme, Kriminalität, marode Schulen und eine zum Teil nicht funktionierende Verwaltung gehören dazu. Hinzu kommt, dass die Stadt ausweislich der jüngsten Wahlergebnisse politisch nicht mehr in Ost und West gespalten ist, sondern in Innen- und Außenbezirke: Während das Stadtzentrum praktisch grün ist, haben die Menschen in den äußeren Stadtteilen zumeist schwarz gewählt.
Bildquelle:
- Franziska Giffey: dpa