von CHRISTIAN KOTT
Zum Beginn eine wahre Geschichte aus dem Gerichtssaal: Mein erster Auftritt im heiligen Stoff des Prozessjuristen, der schwarzen Robe, ist mir tief im Gedächtnis geblieben. Rechtsreferendare werden im Rahmen ihrer Ausbildung als sogenannte „Sitzungsvertreter“ zu Gericht geschickt und dürfen dort üben, wie man Staatsanwalt ist. Das sind keine nachgestellten, sondern echte Prozesse, mit echten Tätern und vor allem echten Opfern. So etwas sollte ich damals, vor rund 20 Jahren, zum ersten Mal machen.
Der Fall ist schnell erzählt: Ein 16- und ein 18-jähriger aus Kasachstan standen Büchsenbier trinkend an einer Bushaltestelle als das ebenfalls 16-jährige Opfer des Weges kam. Ihn fragten die beiden nach einer Zigarette. Als er erklärte, er rauche nicht, setzten sie ihm den geöffneten Kiefer auf den Kantstein und traten von hinten gegen seinen Kopf.
Die Verletzungen waren so intensiv, daß das Opfer noch ein halbes Jahr nach der Tat im Gerichtssaal ein Metallgestell im Gesicht trug und lebenslang bleibende Schäden haben würde.
Die beiden wegen Körperverletzung vorbestraften Täter zeigten keine Reue: In Kasachstan hätten auch Nichtraucher Zigaretten dabei, um gegebenenfalls „Respekt“ zu zeigen, gaben sie an.
Während ich mich noch still selbst fragte, warum eine solche Tat nicht vor dem Jugendschöffengericht angeklagt wurde, verlangte ich als Aushilfs-Staatsanwalt in meinem Plädoyer eine Jugendstrafe von jeweils zwei Jahren.
Der Jugendrichter verurteilte die beiden zu 60 bzw. 80 sozialen Arbeitsstunden und begründete das damit, dass die beiden mal merken müssten, dass „man sowas in Deutschland nicht macht“. Bei diesen Worten schaute ich in das Gesicht des Opfers und seiner Eltern und wollte im Erdboden versinken. Der Richter erklärte mir später bei einer Tasse Kaffee, daß er die „Jungs“, wie er sie nannte, nicht ins Jugendgefängnis habe schicken wollen, weil sie dort kriminalisiert würden.
Mein Ausbilder, ein „echter“ Staatsanwalt, teilte später meine Empörung über dieses Urteil überhaupt nicht. Das sei völlig normal, das würde ich schon lernen, wenn ich erst ein Staatsanwalt sei. Meine Antwort „So wie Sie möchte ich nie werden“ brachte mir die schlechteste Stationsnote meines ganzen Referendariats ein. Wenn ich später als Rechtsanwalt in Jugendstrafverfahren verteidigte, hatte ich (bis auf einen einzigen Fall) immer das Gefühl, eigentlich auf der falschen Seite zu sitzen.
Strafrecht ist generell das Rechtsgebiet, das am meisten öffentliches Interesse weckt. Jeder hat irgendwie eine Meinung dazu, dass die Strafen, die Gerichte aufwändig ermitteln, sowieso immer zu niedrig seien, obwohl kaum jemand die Grundsätze der Strafzumessung kennt und nicht einmal nachliest, welche Strafrahmen eigentlich gelten. Aber im Großen und Ganzen bewegen sich die ausgesprochenen Strafen bis auf wenige Fehlurteile, für die es ja zum Glück weitere Instanzen gibt, im Rahmen dessen, was die Bevölkerung für angemessen hält, wenn man nicht gerade die Freunde und Angehörigen der Täter oder der Opfer fragt.
Das gilt nicht für das Jugendstrafrecht. Aus einer völlig ideologisierten Denkweise der 70er Jahre heraus werden Täter schwerster Straftaten mitunter bis zu ihrem 21. Lebensjahr mit einem funktionslosen Erziehungsgedanken mit lächerlichsten Sanktionen belegt, die (nicht selten noch im Gerichtssaal) selbst bei den Tätern offenes Gelächter auslösen. Wirkungslose Witz-Strafen für Intensivtäter wirken für die Täter wie eine Aufforderung zum Weitermachen. An die Opfer und ihre Angehörigen denkt ebenso niemand wie an die Folgen für die Rechtsordnung, wenn man ganzen Generationen suggeriert, dass Taten, welche die Gesellschaft zutiefst abstoßend findet, weitgehend folgenlos bleiben. Nicht einmal den Tätern tut man einen Gefallen wenn man ihnen durch ein gescheitertes Erziehungssystem nahelegt, eine Karriere als Berufkrimineller in Betracht zu ziehen.
Alle Versuche, das Jugendstrafrecht in Richtung Vernunft zu reformieren sind leider weitestgehend erfolglos geblieben. Auch deshalb, weil der Gesetzgeber das Problem seit Jahrzehnten erfolgreich ignoriert. Es scheint Wichtigeres zu tun zu geben, und gerade unsere aktuelle Bundesjustizministerin hat die nun auslaufende Legislatur so intensiv mit Tiefschlaf verbracht, dass mehr als 75% der Bundesbürger nicht einmal wissen, wer dieses wichtige Amt derzeit bekleidet.
Eine vernunftgesteuerte Reform des Jugendstrafrechts duldet nach Jahrzehnten des Scheiterns aber keinen Aufschub mehr. Es bedarf angemessener Sanktionierung, beschleunigter Verfahren und intensiver Sozialarbeit wenn man die Opfer schützen und die Täter zur Umkehr bewegen will. Die uralte Ausrede des Geldmangels vorzuschieben ist Augenwischerei, denn nichts ist teurer als ein Täter, der als Jugendlicher von den Gerichten selbst zur Kriminalität ermutigt wird und später dann als Erwachsener von der „echten“ Justiz mit empfindlichen (und kostspieligen) Haftstrafen belegt wird.
Bildquelle:
- Robe_Gericht: dpa