Jogi geht, jetzt muss auch „Die Mannschaft“ weg – für einen echten Neuanfang…vielleicht mit Stefan Kuntz?

Bundestrainer Joachim Löw sieht den Expansionsdrang mit immer mehr Spielen im internationalen Fußball kritisch. Foto: Maurizio Gambarini

von MARK ZELLER

Weltmeister, Rekordtrainer, Stil-Ikone – Jogi Löw hat in seiner bald 15-jährigen Amtszeit als Bundestrainer Maßstäbe gesetzt. Die Reaktionen auf seinen angekündigten Rückzug verraten allerdings, dass seine Ära in einem Stimmungstief rund um die deutsche Nationalelf festgelaufen ist. Deswegen braucht es einen kompletten Neuanfang.

Wenn der Deutschen wichtigster Trainer seinen Abschied verkündet, dann müsste das doch eigentlich riesige Wellen schlagen!? So ist es aber irgendwie nicht. OK, die Kommentarspalten kommen ihrer Pflicht nach, aber sonst? Selbst im eigenen, äußerst Fußball-affinen Bekanntenkreis bleiben erkennbare Reaktionen bestenfalls überschaubar. Und wenn, dann hört man am Ehesten ein müdes „wurde Zeit“, „überfällig“ oder „zu spät“. Kein emotionaler Spalier wie beim Rückzug der „Lichtgestalt“ Franz Beckenbauer, nicht mal eine Träne im Knopfloch, wie beim Abschied von „Es gibt nur ein‘ Rudi Völler“, und trotz seiner Sympathien in der Damenwelt auch kein Drama a la „Robbie verlässt Take That“.

Der achselzuckende Gleichmut, mit dem das deutsche Fußballvolk seiner eigentlich relevantesten Personalie begegnet, entspricht aber nur der zuletzt geradezu bleiernen Gleichgültigkeit, die sich rund um die Nationalelf ausgebreitet hat. Und die hat der demnächst scheidende Bundestrainer maßgeblich mit zu verantworten.

Zuneigungsentzug bis hin zum Desinteresse – wie konnte es soweit kommen, bei einem wie Löw, der doch immer reichlich spannenden Stoff geboten hat? Als er nach dem „Sommermärchen“ 2006 übernahm, hätten zunächst einmal wohl die Allerwenigsten damit gerechnet, dass der „Jogi“, der nette Taktik-Tüftler im Hintergrund, der frühere Zweitliga-Knipser, es mal zum dienstältesten Bundestrainer bringen würde. Zu groß der Schatten des Weltmannes Klinsmann, zu schnelllebig die Zeiten.

Mit spielstarkem Fußball zum Rekordtrainer

Aber Löw setzte den Power-Fußball der Heim-WM fort, erreichte auch bei den folgenden fünf großen Turnieren mindestens das Halbfinale (Weltrekord!) und wurde schließlich der Bundestrainer mit den meisten Spielen und den meisten Siegen. Dabei verlieh er dem Aushängeschild des deutschen Fußballs neue Ästhetik – und zwar auf und neben dem Platz: Die temporeichen, spielstarken Auftritte seiner Mannen flankierte der adrette Schwarzwälder an der Seitenlinie mit der Aura eines metrosexuellen Kosmopoliten. Der deutsche Fußball wurde unter seiner Leitung zum perfekten Gesamtkunstwerk, das seinen Höhepunkt 2014 in dem verdienten Gewinn der Weltmeisterschaft fand.

Doch wie das so ist mit makellosen Kunstwerken, die sich vor allem über ihren eigenen Glanz definieren: Sie sind verletzlich. Das zeigte sich immer wieder bei Gegnern, die das deutsche Schön-Spiel nicht mitspielten. Und hier zeigte sich auch: Ein korrigierendes Eingreifen, wenn die Spielidee aus dem Tritt geriet, war Löws Stärke nicht, weswegen ihm auch der Ruf anhaftet, manch‘ entscheidendes Spiel vercoacht zu haben.

Die größte diesbezügliche Fehlleistung leistete er sich aber außerhalb des Spielfeldes – und innerhalb des eigenen Teams: Als unmittelbar vor der WM 2018 seine Führungsspieler Özil und Gündogan den türkischen Staatschef Erdogan als „ihren Präsidenten“ öffentlichkeitswirksam hofierten, ließ Löw sie unbehelligt. Dabei leisteten die beiden damit nicht nur unverhohlene Wahlkampfhilfe für einen skrupellosen Autokraten, sondern brachen einen Loyalitätskonflikt auf, der ihrem sorgsam gepflegten Integrations-Image diametral entgegenlief.

Knackpunkt „Erdogate“

Auf einen Schlag fiel der ganze künstliche Claim, den der DFB sich in jahrelanger Kleinarbeit gegeben hatte, in sich zusammen. Durch „Erdogate“ entpuppte sich der offensiv nach außen getragene Wertekanon als bloße Hochglanzfassade. Besonders die Art und Weise, mit der der DFB die anhaltende öffentliche Kritik für nichtig zu erklären versuchte, zeigte auch dem letzten Gutmeinenden, wie weit sich der größte Sportverband der Welt von seiner Basis entfernt hatte. Und über allem stand plötzlich die einfache wie berechtigte Frage: „Wie(so) sollen sich Menschen eines Landes mit einer Mannschaft identifizieren, deren Spieler das offensichtlich nicht einmal selbst tun?“ Und diese Frage beantworteten viele Fans mit einer Abkehr von ihren kickenden Helden.

„Die Mannschaft“ – so die marketinggerechte Selbstbezeichnung Bierhoffscher Prägung – war endgültig zu einem überstylten Kunstprodukt verkommen, dessen Außendarstellung wichtiger als die innere Einstellung geworden war, und das darüber sogar die klassischen „Deutschen Tugenden“ eingebüßt hatte. Das, was oft den entscheidenden Unterschied gemacht hatte, war verlorengegangen. Die anschließende WM mit dem blamablen Vorrundenaus wurde da zur fast logischen Konsequenz. Und Jogi Löw duckte sich bei alledem einfach weg, im erkennbaren Unwillen, sich der drängendsten Themen anzunehmen. Die zuvor vielgelobte Lässigkeit wurde zur Selbstherrlichkeit, die später in der Löw-Aussage kulminierte: „Jeder kann Kritik äußern. Aber ich stehe über den Dingen.“ Das nennt man dann wohl „entrückt“.

Abkehr der Fans und sportlicher Absturz

Was nach dem WM-Debakel folgte, lag dann irgendwo zwischen erbärmlich, ärgerlich und peinlich: Das sieglose Abschneiden in der Erstauflage der „Nations League“, die als Innovation verkaufte Ausbootung der Weltmeister Müller, Boateng und Hummels einhergehend mit zunehmendem sportlichem Absturz, zuletzt die historische 0:6-Pleite gegen Spanien. Glücklicherweise bekam diesen Niedergang des deutschen Fußball-Flaggschiffs kaum noch jemand mit, denn längst sind dessen Auftritte geprägt von Tiefstwerten in Sachen TV-Quote. Und wenn sogar Weltmeister Bastian Schweinsteiger öffentlich bedauert: „Man kann sich nicht mehr so hundertprozentig identifizieren mit der Nationalmannschaft“, bleibt festzuhalten: Das Erbe des Rekordtrainers ist am Ende vor allem eine nie dagewesene Abkehr der Deutschen von ihrer eigentlich liebsten Mannschaft – und das hat nichts mit Corona zu tun.

Mit der Ankündigung seines Rücktritts nach der EM im Sommer ermöglicht Jogi Löw dem DFB einen Neustart mit Vorlaufzeit. Eine Entscheidung, zu der der Verband aus eigener Kraft offensichtlich nicht in der Lage war. Als seinen Nachfolger braucht’s nun jemanden, der weiß, wie die Dinge laufen. Der sich im DFB mit all dessen Untiefen auskennt. Der ein nachgewiesen erfolgreicher Trainer ist. Der die Sprache des Fußballs spricht – und damit die Sprache der Spieler unabhängig ihrer Generation. Und vor allem: Der emotionalisiert, und damit die Menschen im Land wieder mitnimmt. Weg von „Die Mannschaft“, hin zum „wir“!

Stefan Kuntz wäre so einer. Um allerdings den dringend benötigten Stimmungsumschwung einzuleiten, dürfte ein Wechsel alleine auf der Trainer-Bank nicht reichen. Und nicht zu vergessen: In drei Jahren steigt in Deutschland die EM. Wenn dann auch nur im Ansatz eine Atmosphäre herrschen soll, wie beim „Sommermärchen“ 2006, braucht der DFB zwingend eine komplette Neu-Ausrichtung.

Bildquelle:

  • Weihnachtsinterview: dpa

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