von JOHANNES LOHMEYER
TEL AVIV – Der Flughafen Tel Aviv gehört zu den nervigsten der Welt. Während es an den Schaltern für israelische Staatsbürger vergleichsweise zügig vorangeht, steht man an den Schaltern für Nicht-Israelis auch schon mal eine Stunde in der Schlange. Dieses Mal war es umgekehrt. Nach fünf Minuten war ich eingereist.
Am Weg zum Terminal ist jetzt eine Galerie aller 125 vermissten Israelis (der Jüngste gerade mal ein Jahr alt) mit der Forderung „Bring them home NOW“ zu sehen, einem Claim, der mir in Israel überall begegnen wird in dieser Zeit. Er wurde von den Angehörigen der Verschleppten und Vermissten geschaffen.
In Tel Aviv herrscht auf den ersten Blick Business as usual
Der Straßenverkehr chaotisch und rabiat wie immer (die Hupe ist für israelische Autofahrer eine unverzichtbarste Ausstattung), die Strände voller Sonnen- und Sporthungriger, Bars und Kneipen laut und voll wie immer. Auch dies ist eine klare Botschaft „Unsere Lebensfreude ist stärker als Euer Hass“.
Nova Festivalgelände
Am 6. Oktober 2023 startete im Re’im Forest, nahe dem Kibbuz Re’im das Nova Musikfestival, bei dem 3600 junge Menschen aus Israel und aller Welt einen Rave für den Frieden feierten. Das Festivalgelände ist fünf Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. Gegen acht Uhr am Folgetag fielen mehr als 100 Hamas-Terroristen zum Teil mit Pickups und Motorrädern, zum Teil mit Motorschirmen auf dem Gelände ein und richteten ein Blutbad an, dem 260 Menschen zum Opfer fielen. Weitere 100 wurden nach Gaza verschleppt.
Heute befindet sich auf dem Gelände eine improvisierte Gedenkstätte mit 260 angedeuteten Gräbern, jedes mit Bildern, persönlichen Gegenständen und der Geschichte der Opfer versehen. Es ist ein dystopischer, bedrückender und verstörender Ort. Die vielen Besucher beten in der improvisierten Synagoge für die Opfer, singen an den Gräbern oder gedenken einfach schweigend ihrer Toten und Verschleppten.
Kibbuzim Nahal Oz und Be’eri
Nahal Oz und Be’eri sind zwei der insgesamt acht überfallenen Kibbuzim in der Nähe des Gazastreifens. Die meisten Kibbuzim sindpolitisch eher links eingestellt, ihre Bewohner friedliebend und gegenüber den Bewohnern Gazas hilfsbereit und offen. Viele haben aktiv geholfen, Bürger Gazas finanziell unterstützt, sie in israelische Krankenhäuser zur Behandlung gefahren und auch viele Bewohnern Gazas in ihren Betrieben beschäftigt. Wie wir inzwischen wissen, haben gerade diese Beschäftigten die Hamas-Angreifer mit detaillierten Informationen versorgt, ohne die die Angriffe in diesem Ausmaß nicht hätten erfolgen können.
Etwa 1000 Hamas-Terroristen durchbrachen am Morgen des 7. Oktober die Grenze, überfielen zunächst eine Grenzstation und brachten die dort stationierten Soldaten um, um dann zeitgleich in mehrere Kibbuzim einzudringen. Sie drangen in die Häuser ein und erschossen die Bewohner. Andere wurden gefesselt und in ihren Häusern bei lebendigem Leib verbrannt. Viele Bewohner konnten sich in ihre Schutzräume flüchten und mussten dort bis zu 12 Stunden ausharren, bis die Armee sie befreien konnte.
Als Ariel (12) joggen war, kamen die Terroristen
Beispielhaft sei hier die Geschichte des zwölfjährigen Ariel aus dem Kibbuz Nahal Oz erzählt, der in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober joggen ging und den Kibbuz in östlicher Richtung verließ.
Nach kurzer Zeit hörte er Schüsse aus dem Kibbuz, brachte sich in Sicherheit und verharrte mehrere Stunden. Als er zurückkehrte, war sein Elternhaus zerstört, seine Eltern und seine beiden Schwestern ermordet.
Die Kibbuzim wurden schwer, einige fast vollständig zerstört. Ich habe vor zwei Jahren selbst zwei Tage in einem dieser Kibbuzim übernachtet und war über die einfache Absicherung mit einem Zaun und einem Metalltor erstaunt. Meine Gastgeber vertrauten auf die vermeintlich sicherste Grenze der Welt und die israelische Armee. Ein Vertrauen, das viele mit dem Leben bezahlen mussten.
Platz der Geiseln, Tel Aviv
Den Platz vor dem Tel Aviv Museum of Art direkt gegenüber dem Verteidigungsministerium haben die Angehörigen der Geiseln und Vermissten zu einem Ort umgewandelt, an dem sie sich treffen. Es gibt Kunstinstallationen (u.a. die Nachbildung eines Terrortunnels, in dem man das Grauen der Geiseln in diesen Tunneln nachvollziehen kann). Und es gibt eine Uhr, die zählt, wie viele Tage die vermissten Menschen bereits in Geiselhaft sind. Es sind gerade inzwischen 241 Tage.
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Man erlebt dort Trauer, Liebe, Verzweiflung, aber keinen Hass. Den erlebt man nur jenseits der Grenzzäune und weltweit auf den Straßen und in den Universitäten.
Was man erlebt, ist Wut. Wut auf die Regierung, die den Schutz der Südgrenze so vernachlässigt und zum Teil einen halben Tag gebraucht hat, um den bedrängten Menschen zur Hilfe zu kommen. Bei dem Ruf, den Israels Armee und Geheimdienst genießen, ist das in der Tat eine Frage, die es zu klären gilt.
Bei meinem Besuch ging man noch von 125 Geiseln aus. Jetzt wurden gerade die sterblichen Überreste von Dolev Yehud nahe des Kibbuz Nir Oz gefunden. Dolev wurde 35 Jahre alt, und nach seiner Ermordung brachte seine Frau ihr viertes Kind zur Welt. Ein Kind, das seinen Vater nie sehen wird. Und während ich das schreibe, wurde bekannt, dass weitere vier ältere Geiseln im Gazastreifen ermordet wurden.
Von den freigelassenen Geiseln wissen wir, dass sowohl weibliche als auch männliche Geiseln nahezu täglich sexuell missbraucht werden, ein weiterer Albtraum für sie und ihre Angehörigen.
Meine israelischen Freunde sind ratlos. Ratlos, wie sie mit diesen Nachbarn weiterleben sollen. Ratlos, wie man ihnen eine Perspektive bieten kann, nachdem sie die erste Perspektive nach der Räumung des Gazastreifens 2005 gründlich versiebt haben.
Bezogen auf die Einwohnerzahl hat Israel ein Trauma erlitten, das zehnmal massiver war als 9/11 für die USA. Es hat militärisch deutlich zurückhaltender reagiert und steht trotzdem international am Pranger. Alle Welt redet über die angeblich unschuldige Zivilbevölkerung in Gaza, die nach wie vor mehrheitlich hinter der Hamas steht. Und niemand über das unfassbare Leid, dass die Israelis nach wie vor durchmachen.
Mit keinem anderen Land ist die Welt in der Geschichte unfairer umgegangen als mit Israel.
Bildquelle:
- Nova_Festivalgelände_Israel: johannes lohmeyer