KIEW/MOSKAU/WASHINGTON – Bundesregierung und Nato sind alarmiert über den aktuellen massiven Aufmarsch russischer Panzer und Soldaten an den Grenzen zur Ukraine. Dort tobt nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2013 bis heute im Osten des Landes ein offener Krieg von Separatisten und russischen Söldnern mit russischen Waffen gegen die heimische Bevölkerung und die ukrainische Armee. US-General Ben Hodges, bis vor zwei Jahren Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa, ist ein exzellenter Kenner der Ukraine, wo er selbst mehrfach gewesen ist. Im Interview erklärt er uns, was dort gerade passiert…und warum es passiert.
Ben Hodges, USA und Nato sind beunruhigt über militärische Zusammenstöße trotz vereinbarter Waffenruhe und die massive Verlegung russischer Truppen an die Grenzen zur Ukraine. Was ist da los?
Wir erleben den Aufmarsch Russlands entlang der ukrainischen Grenzen – im Norden, Osten und Süden. Ich habe gerade ein Video von aktuellen Kämpfen bekommen. Das ist sehr beunruhigend. Die Schlüsselfrage ist, ob es tatsächlich zu einem großen Krieg mit Russland kommen könnte.
Sollte nicht Russland selbst ein Interesse daran haben ein solches Kräftemessen mit dem mächtigsten Militärbündnis der Welt zu vermeiden?
Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland dauert seit sieben Jahren an. Russland hat die Halbinsel Krim annektiert und mit sogenannten Separatisten im Donbass Tausende ukrainische Bürger getötet. Und sie tun das auch heute noch, trotz eines formalen Waffenstillstands. Der Kreml zeigt bisher keinerlei Interesse an einer friedlichen Lösung, die die Gewalt beendet.
In wie weit hat der neue US-Präsident überhaupt ein Interesse an dem Konflikt im fernen Osteuropa?
Ich freue mich sehr, dass Präsident Biden, und seine neue Regierung gerade erklärt haben, dass die Souveränität der Ukraine für die Vereinigten Staaten eine Priorität darstellt. Er hat inzwischen auch mit Präsident Selenski direkt telefoniert. Ich denke, dass die amerikanische Unterstützung – nicht nur diplomatisch, sondern auch wirtschaftlich und militärisch – fortgesetzt wird.
Wir sind weiterhin im Gespräch mit unseren Verbündeten in Berlin und Paris, damit sie Druck auf den Kreml ausüben und klarmachen, dass wir das Märchen vom „Bürgerkrieg in der Ukraine, der sich ausbreitet“, und einem Russland, das quasi nun sogar eingreifen muss, nicht akzeptieren. Das ist nichts als die übliche russische Desinformation, die hier versucht wird.
Das alles passiert nicht isoliert
Welches Interesse steckt denn hinter dem Vorgehen Russland gegenüber seinem Nachbarland?
Das alles geschieht nicht isoliert. In den vergangenen Tagen hat das Abfangen russischer Flugzeuge durch NATO-Flugzeuge vom Nordatlantik über die Ostsee bis zum Schwarzen Meer erheblich zugenommen. Russische U-Boote zeigen sowohl in der Arktis als auch im Schwarzen Meer ungewöhnliche Aktivitäten. All diese Dinge geschehen gleichzeitig und sind geplant.
Ich denke, wir müssen auf die Möglichkeit vorbereitet sein, dass all dies die Aufmerksamkeit von möglichen anderen Aktionen der Russischen Föderation und ihrer Streitkräfte ablenken soll. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass die alten strategischen Ziele des Kremls gegenüber der Ukraine weiter Bestand haben.
Welche strategischen Ziele meinen Sie konkret?
Sie wollen die Ukraine weiter destabilisieren, weiterhin Druck auf die Regierung von Präsident Selenski aufrecht erhalten, und ich bin überzeugt, dass sie ihren Weg nach Odessa gehen wollen. Die Ukraine vom Schwarzen Meer isolieren, Mariupol und Berdyansk erobern. Dies ist ein langfristiges Ziel. Die Unterstützung der Ukraine durch die Vereinigten Staaten ist deshalb sehr wichtig, aber der diplomatische Druck von Berlin und Paris bleibt ein Schlüsselfaktor.
Aber ist jetzt nicht für Russland ein geopolitisch ungünstigen Moment, um den sogenannten „Korridor zur Krim“ und weiter nach Odessa zu durchbrechen?
Es ist ein strategisches, ein langfristiges Ziel. Und deshalb ist unsere Haltung als USA klar: Die Souveränität des gesamten Territoriums der Ukraine einschließlich Donbass und Krim muss der Regierung in Kiew zurückgegeben werden.
Das wird natürlich nicht über Nacht passieren. Das ist ein langer Prozess und erfordert Hartnäckigkeit und diplomatischen Druck auf den Kreml, insbesondere von Berlin und Paris aus. Der Konflikt um die Ukraine hat aber auch das Augenmerk der USA erstmals auf die ganze Schwarzmeer-Region gelenkt. Unsere Regierung muss eine Strategie für die ganze Region entwickeln. Dazu gehören nicht nur die Ukraine, sondern auch Georgien, Moldawien und unsere Verbündeten wie die Türkei, Bulgarien und Rumänien. Das ist jetzt zu einem wichtigen Thema für die Vereinigten Staaten geworden.
Sie haben über die Aktivitäten der russischen Armee entlang aller NATO-Grenzen gesprochen, sogar in der Arktis, sogar am Nordpol. Versucht Russland, militärisches und wirtschaftliches Handeln zu verbinden? Zum Beispiel indem sie Biden sagen: Wenn ihr Nord Stream 2 verhindert, werden wir erst recht mit aller Macht die Ukraine besiegen?
Natürlich sucht der Kreml überall nach Hebelwirkungen. Der Einsatz von Energie als Waffe ist eine langjährige Strategie des Kremls. Drohungen an Freunde und Verbündete, ihr Territorium zu besetzen. Georgien, Armenien und jetzt Aserbaidschan, wo derzeit die sogenannten Friedenstruppen stationiert sind. Natürlich auch die Ukraine. Und jetzt gibt es leider auch russische Truppen in Belarus. Darüber hinaus beansprucht Russland die sogenannte Northern Transit Route in der Arktis.
Aber das Letzte, was Russland will, ist ein Krieg mit der NATO. Die Führung der Vereinigten Staaten ist dabei ein zentraler Punkt.
Anders gefragt: Glauben Sie, dass Russland die Vereinigten Staaten wirtschaftlich erpressen will?
Russland kann die Vereinigten Staaten nicht erpressen. Natürlich kann es uns viel Ärger bereiten. Nord Stream 2 ist ganz schlecht für Europa, besonders für unsere Freunde in der Ukraine und in Polen. Aber auch für Deutschland ist das eine schlechte Sache. Ich weiß es nicht genau, aber ich denke, die US-Regierung wird einen Weg finden, unseren sehr wichtigen Verbündeten Deutschland davon zu überzeugen, das Richtige gegen Nord Stream 2 zu tun.
Bildquelle:
- GEN_Ben_Hodges: cepa