INTERVIEW mit Deutschlands Zeitgeist-Expertin Nr. 1: „Polyamorie ist kein Angriff auf die bürgerlichen Werte“

Kirstine Fratz hat keinen alltäglichen Beruf: Sie ist die renommierteste Trendforscherin und Zeitgeist-Expertin in Deutschland. Ihr Job ist es, den Zeitgeist zu verstehen und die Trends von morgen aufzuspüren. TheGermanZ traf die ungewöhnliche Frau in Hamburg…

Frau Fratz, wofür braucht man überhaupt Zeitgeistforschung? Ist Zeitgeist nicht eine Dynamik, die sich spontan selbst aus aktuellen Trends entwickelt und mit der Marketingprofis dann umgehen müssen, wenn Sie eine solche neue Dynamik entdeckt haben?

Ja und wäre es nicht zu schön, wenn man diese neue Dynamik bewusst entdecken und nutzen könnte, anstatt von Ihr überrascht zu werden, um dann hinter ihr her zu stolpern? Zeitgeist Forschung ändert zwar nichts am Lauf der Dinge, aber man ist deutlich besser vorbereitet auf die Veränderungen und lernt mit den Zeitkräften zu spielen, sowohl beruflich als auch privat. Das ist nicht nur eine Spiel für Marketing-Profis, sondern betrifft alle Zeitgeist-Teilnehmer.

Wir alle wollen ein gelungenes Leben haben und suchen dabei nach Orientierung, wie das geht. Der Zeitgeist liefert uns diese Orientierung, egal ob bei der Partnerwahl oder der Kindererziehung. Der Zeitgeist ist einer unserer Lebensberater dafür, welche Strategie dabei gerade am Erfolg versprechendsten ist. Daher geht Zeitgeist-Forschung eigentlich jeden jederzeit etwas an. So wird uns bewusst, warum wir gerade so denken, handeln und fühlen, wie wir es tun. Das ist der Moment, wo wir anfangen mit den Zeitkräften spielen und nicht mehr nur der Zeitgeist mit unseren Kräften spielt.

Kann man als Einzelner also den Zeitgeist nicht beeinflussen? Oder anders gefragt: Sind wir alle Getriebene des Zeitgeistes?

Man kann schon als Einzelner den Zeitgeist beeinflussen, aber der Zeitgeist ist kein Wunschkonzert. Es könnte schwierig werden, wenn man sich einfach erhofft, die Zeit wieder „zurück zu drehen“ oder sich wünscht, die Gesellschaft wäre mehr so oder so. Das Steuerungs-Element des Zeitgeistes ist der Mangel. Wenn man frühzeitig einen Mangel, ein Defizit oder ein neues Bedürfnis in der Gesellschaft ausmacht, dann könnte man als einer der Ersten diesen Mangel bedienen. Z.B. mit einer Dienstleistung, einem Produkt, einem Film / Buch, einem Kindergartenkonzept etc. Dann nimmt man Einfluss darauf, wie sich dieser Mangel in Zukunft gestalten wird. Man hat die Möglichkeit diesen neuen Sehnsuchtsort der Gesellschaft mit zu kreieren und schon hat man z.B. ein erfolgreiches Start Up gegründet, mit einer App die alles noch einfacher macht.

Bei soviel Zeitgeist-Bewusstsein werden Sie von einem eventuell Getriebenen zu einem Zeiten-Spieler, zu einem Zeitgeist-Unternehmer. Sie können nur vom Zeitgeist getrieben werden, wenn Sie sich seiner Dynamik nicht bewusst sind. Sobald Sie lernen dem Wandel mit etwas Abstand zu betrachten, haben Sie auch die Wahlmöglichkeit wo und wie Sie mitmachen.

In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie die „Zeitgeist-Ära LSD“, also ausgehend von San Francisco die Hippie-Jahre, die 60er und ihre gigantischen Auswirkungen auf unser aller Leben bis heute. War das ein besonders prägender Fall, oder gibt es vergleichbare Entwicklungen des Zeitgeistes, die Generationen geprägt haben?

Nun, die momentane digitale Revolution hat und wird sicherlich große Auswirkungen auf die jetzige und kommenden Generationen haben. Jede Art von Ereignis, welches große umwälzende Dynamiken in Gang setzt, die alle unsere Lebensbereiche erfassen, hat einen großen Einfluss auf unser Denken, Handeln und Fühlen und damit auf den Lauf der Geschichte. Die Hippie-Bewegung ist sicherlich einer der Grundsteine für unsere heutige Idee von einem individualistischen Leben. Die digitale Revolution entwickelt diese Idee weiter und hat noch mehr Neues im Gepäck, was unser Leben verändert.

Neben den individuelle Wahlmöglichkeiten haben wir eine neue Art von Effizienz und Optimierung dazu gewonnen, als auch ein neues Mensch-Maschine-Verständnis. Diese Entwicklung könnte die Individualisten herausfordern, ihre Vorstellung vom Menschsein neu in der Gesellschaft zu definieren. In meinem Buch gehe ich dieser Frage nach, welchen Mangel und welche Sehnsuchtsorte diese digitale Dynamik in Zukunft produziert und mit welchen Chancen der Zeitgeist darauf antworten könnte.

Das für mich spannendste Kapitel Ihres Buches beschäftigt sich mit der Polyamorie, also der Fähigkeit von Menschen mehr als einen anderen Menschen zu lieben. Anders als bei flüchtigen sexuellen Abenteuern oder Verhältnissen sind derartige Beziehungen langfristig angelegt, wie ich gelernt habe. Also bürgerliches Medium bevorzugen wir die traditionelle Ehe aus Mann und Frau. Liefern Sie also mit Ihrem Buch auch die Argumentation zu tiefgreifenden Veränderungen in unserem Leben und in unserer Gesellschaft? Oder andersrum: Sind polyamore Beziehungen etwas Erstrebenswertes?

 Interessant bei dem Phänomen Polyamorie ist, dass sich viele Zeitgenossen erst einmal davon angriffen fühlen. Genau das ist das Herausfordernde an dieser Zeitgeist-Manifestation. Hier ist es wichtig, dass man sehr genau unterscheidet, was die eigene Meinung ist und was neue Erkenntnisse über den Wandel der Gesellschaft sind. Betrachtet man Polyamorie mit dem Zeitgeist-Blick, so ist es mitnichten ein Angriff auf die bürgerlichen Werte, sondern vielmehr eine Art Verlegenheit, weil die bürgerlichen Werte in den urbanen Zentren der westlichen Welt einfach real kaum noch nachhaltig lebbar sind. Polyamorie ist der Versuch, die gewachsenen Vorstellungen an heutige Partnerschaften unter einen Hut zu bringen. Unser vorherrschendes Liebesideal entspricht in etwa der Quadratur des Kreises. Aufregung und Geborgenheit, mit all den daran geknüpften Erwartungen, soll die Liebe heute gleichzeitig erfüllen. Diese Mischung ist äußerst fragil und doch interessanterweise der größte Sehnsuchtsort für Stabilität in unserem Leben. Da ist es fast logisch, dass man irgendwann den Versuch unternimmt, dieses komplexe Projekt auf mehrere Teilnehmer zu verteilen. Insofern ist Polyamorie ein Experiment, damit die heutigen Vorstellungen von gelungener Liebe irgendwie gelingen. Ob das funktioniert, wird sich zeigen.

Auf jeden Fall sollten wir diese Kulturleistung mit dem Zeitgeist Blick verfolgen, denn vielleicht wird sich der bürgerliche Beziehungsrahmen zumindest inspirieren lassen müssen, um weiter Zukunftsfähig zu sein.

Denn die Fähigkeiten, die bei der Polyamorie angewandt werden, gehen weit über das Beziehungsthema hinaus. Die Zeitgeist-Themen Selbsterfahrung, Connectivity, Individualität, Transparenz u.a. treiben die Zeitgenossen gerade um. In diesen Themen stecken die aktuellen Versprechen für ein gelungenes Leben und finden sich wieder in all unseren Lebensbereichen – auch in der Partnerschaft. Nur heißt es da nicht My Müsli sondern Polyamorie.

Bildquelle:

  • Kirstine_Fratz: kelleCOM

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Über den Autor

Klaus Kelle
Klaus Kelle, Jahrgang 1959, gehört laut Focus-online zu den „meinungsstärksten Konservativen in Deutschland“. Der gelernte Journalist ist jedoch kein Freund von Schubladen, sieht sich in manchen Themen eher als in der Wolle gefärbten Liberalen, dem vor allem die Unantastbarkeit der freien Meinungsäußerung und ein Zurückdrängen des Staates aus dem Alltag der Deutschen am Herzen liegt. Kelle absolvierte seine Ausbildung zum Redakteur beim „Westfalen-Blatt“ in Bielefeld. Seine inzwischen 30-jährige Karriere führte ihn zu Stationen wie den Medienhäusern Gruner & Jahr, Holtzbrinck, Schibsted (Norwegen) und Axel Springer. Seit 2007 arbeitet er als Medienunternehmer und Publizist und schreibt Beiträge für vielgelesene Zeitungen und Internet-Blogs.