Heute vor 45 Jahren verbrannte sich Pfarrer Oskar Brüsewitz in Zeitz aus Protest gegen den Kommunismus

Bildnis der dramatischen Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz.

von HELMUT MATTHIES

Besonders für junge Deutsche ist die Wiedervereinigung völlig selbstverständlich. Umso wichtiger ist es, derer zu gedenken, die zum Ende der zweiten Diktatur im 20. Jahrhundert in Deutschland beigetragen haben. Dazu gehört Oskar Brüsewitz, der sich heute vor 45 Jahren aus Protest gegen den Kommunismus selbst verbrannt hat. Ein Fanal, das weltweit Aufsehen erregte.

Wer war Oskar Brüsewitz? Ein leidenschaftlicher Anhänger von Jesus Christus! Das oberste Ziel des Flüchtlingskindes aus Ostpreußen und Schuhmachermeisters (der erst mit 40 Pfarrer wurde) war, dass dieser Jesus allen bekannt wird. Sein Studienfreund, Pfarrer Klaus-Reiner Latk, erzählt: „Wenn wir als Studenten aus den Ferien zurück ins Predigerseminar Erfurt kamen, fragte Brüsewitz jeden von uns: ‚Hast du im Urlaub anderen von Christus erzählt?’“ In seiner Gemeinde in dem kleinen Dorf Rippicha bei Zeitz (im Süden von Sachsen-Anhalt) ist es ihm ein ganz großes Anliegen gewesen, besonders Kindern und Jugendlichen das Evangelium in Wort und Tat nahezubringen. Eine seiner drei Töchter berichtete, wie ihr Vater zu ihr kam und sagte: „Ein armes Mädchen wünscht sich so gern eine Puppe. Du hast doch zwei. Kannst du ihr nicht eine abgeben?“ Es war dem SED-Regime ein großer Dorn im Auge, dass er wesentlich mehr junge Leute erreichte als die (sozialistische) Freie Deutsche Jugend (FDJ).

„Ohne Gott geht die ganze Welt bankrott“

In seinem Pfarrgarten stellte er an einer viel befahrenen Straße ein großes Schild auf: „Die auf Gott vertrauen, erhalten neue Kraft.“ Die Schilder „25 Jahre DDR“ beantwortete er 1974 mit „2.000 Jahre Kirche Jesu Christi“. Am Kirchturm befestigte er ein großes Kreuz aus Neonröhren in 20 Meter Höhe, das allabendlich leuchtete und von weitem sichtbar war. Der Staat forderte, es zu entfernen. Brüsewitz antwortete: „Solange der Sowjetstern überall leuchtet, bleibt auch mein Kreuz!“

Als die SED 1975 eine Radio-, Fernsehen- und Zeitungskampagne mit dem Slogan „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“ startete, um so dem schlechten Wetter samt mieser Stimmung zu begegnen, fuhr er seinen Wartburg durch die Kreisstadt Zeitz mit dem Plakat: „Ohne Regen, ohne Gott geht die ganze Welt bankrott“. Zu seinen Bibelwochen lud er mit Plakaten an seinem Auto ein, beispielweise mit dem Satz: „Heute um 20 Uhr spricht Gott in Rippicha.“ In der vom Militär durchsetzten DDR gab er für seine Gemeindemitglieder die Parole aus: „Jesus Christus ist unser Feldmarschall.“ Er predigte unverblümt, dass Christen den Anweisungen der Kommunisten im Blick auf Glauben und Lebensführung nicht folgen dürften. Das alles konnte nicht gutgehen.

Druck von Staat und Kirche

Auf den evangelikal orientierten Pfarrer setzte die Staatssicherheit Dutzende Inoffizielle Mitarbeiter (IM) an und streute das Gerücht, er sei geistesgestört. Das Regime bot ihm an, er dürfe mit seiner Familie in den Westen ausreisen. Das kam für Brüsewitz überhaupt nicht infrage – selbst als ihm auch die Kirche eine Erlaubnis zur Ausreise gab. Auf sie – die Leitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (heute: in Mitteldeutschland) mit Sitz in Magdeburg – wurde viel Druck ausgeübt, Brüsewitz zumindest zu versetzen. Entsprechend wirkte die Kirche auf ihn ein. Doch alles half nicht. Brüsewitz sah sich von Gott berufen, genau in diesem kleinen Dorf in einem der „rotesten“ Bezirke der DDR als Pfarrer zu wirken. Dann kündigte ihm die Kirche eine Visitation (praktisch eine Prüfung) an. Der Druck von allen Seiten ließ ihn verzweifeln – zumal er unter seinen Pfarrkollegen wenig Unterstützung hatte. Der damals auch für Brüsewitz zuständige Jurist der Kirchenleitung, der spätere Konsistorialpräsident Detlef Hammer (Magdeburg), war – wie sich nach der Wiedervereinigung herausstellte – ein bezahlter Stasioffizier „im Besonderen Einsatz“.

Er hob sein eigenes Grab aus

Brüsewitz sah keinen anderen Ausweg, als ein Zeichen zu setzen. Der 47-Jährige hob – von anderen unbemerkt – sein eigenes Grab auf dem Friedhof in Rippicha aus. Am 18. August pflückte er morgens Rosen aus dem Pfarrgarten, schmückte damit das Pfarrhaus, umarmte seine Frau, versicherte ihr, dass er sie liebe.

Ein Abschiedsbrief an seine Amtsbrüder

Bevor er losfuhr, gab er bei einer Mieterin im Pfarrhaus einen Brief für seine Familie und für seine Amtskollegen ab. An seine Pfarrbrüder im Kirchenkreis Zeitz schrieb er u. a.:

„Obwohl der scheinbare tiefe Friede (zwischen SED-Regime und Kirche – d. Red.) zukunftsversprechend ist, der auch in die Christenheit eingedrungen ist, tobt zwischen Licht und Finsternis ein mächtiger Krieg. Wahrheit und Lüge stehen nebeneinander.“

Im Brief an seine Familie heißt es: „Ich habe mich lange durchgerungen und bin nun auch froh darüber, für meinen König und Feldmarschall in dieser so scheinbar friedlichen Welt ein Zeichen aufzurichten … über mich sollt ihr nicht trauern, denn nun soll ich den schauen, den ich sehr geliebt habe … Sorgen wird für uns ein Besserer oder Stärkerer …“

„Ich opfere mich“

In der nahe gelegenen Kreisstadt Zeitz wählte er offensichtlich mit Bedacht den Ort für seine Aktion: auf dem Marktplatz vor der SED-Kreisleitung und der evangelischen Superintendentur. Er holte zwei Plakate aus seinem Wartburg, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Drei bis vier Meter hoch schossen die Flammen. Und mit breit ausgebreiteten Armen läuft Brüsewitz auf die Superintendentur zu, bricht aber schnell zusammen. Passanten versuchen, die Flammen mit einer Decke zu ersticken. Die alarmierte Volkspolizei riss erst mal die Plakate vom Auto: „Funkspruch an alle: Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung der Kirchen, in Schulen, an Kindern und Jugendlichen!“

Wir wissen davon nur, weil die Insassen eines zufällig vorbeifahrenden westdeutschen Autos es gesehen und davon später berichtet haben. Im Krankenhaus fällt der schwer verletzte Pfarrer ins Koma. Als er noch einmal kurz aufwacht, vertraut er dem Arzt an, er „opfere sich im Kampf gegen den Kommunismus“. Er berichtet, seine Kirchenleitung habe ihm seine Versetzung mitgeteilt. So steht es in den Stasi-Akten. Am 21. August erliegt Brüsewitz seinen Verletzungen.

Wenn es nicht zwei mutige Pfarrer gegeben hätte

Das Regime reagierte mit panischer Angst auf den Tod von Brüsewitz. DDR-Volkskammerpräsident Horst Sindermann erklärte später: „Brüsewitz traf den Nerv.“ Auf Befehl von Erich Honecker selbst sollte die Selbstverbrennung nicht bekanntwerden. Das wäre auch gelungen, wenn es nicht zwei mutige Pfarrer gegeben hätte: Klaus-Detlev Beck und Klaus-Reiner Latk. Sie gelangten zwei Tage nach dem Fanal auf abenteuerliche Weise in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in der DDR (eine Art Botschaft Westdeutschlands) zum damaligen Leiter Günter Gaus. Wie Latk berichtete, war es Gaus gar nicht recht, dass die beiden Pfarrer wollten, dass die Selbstverbrennung öffentlich wird. Er fürchtete um die Entspannungspolitik unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD). Die beiden Pfarrer sahen es anders. Daraufhin sorgte Gaus dafür, dass sie in seinem Dienstwagen in die US-Botschaft in Ost-Berlin zu dem Korrespondenten von ARD und ZDF gelangten. Die Fernsehnachrichten schlugen weltweit ein wie eine Bombe, hat man doch im Westen geglaubt, den sich als „Kirche im Sozialismus“ bezeichnenden acht Landeskirchen in der DDR ginge es eigentlich relativ gut.

„Solidarität mit der Regierung“

Am Morgen nach dem Fernsehberichten fuhr der SED-Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, gemeinsam mit dem Leiter des Sekretariats des Evangelischen Kirchenbundes in der DDR, Manfred Stolpe, in einem Auto von der „Hauptstadt der DDR“ zur Kirchenleitung nach Magdeburg. Dort wurde laut Stasiakten eine gemeinsame Strategie „gegen Kritik westlicher Medien an der Regierung der DDR“ entwickelt. Stolpe soll geäußert haben, die Kirche müsse „Solidarität mit der Regierung demonstrieren“.

82 Pfarrer gingen hinter dem Sarg her – in dem Wissen, dass es Ärger bringt. Zuvor hatte die Kirchenleitung Vorsorge getroffen, dass die Beerdigung nicht zu Kritik am SED-Regime ausarten konnte. Einer, der bei der Beerdigung dabei war, der spätere Superintendent von Plauen, Thomas Küttler, sagte nach der Wiedervereinigung der Evangelischen Nachrichtenagentur IDEA Brüsewitz’ bleibendes Verdienst sei, die „eingeschliffenen Mechanismen gegenseitiger Rücksichtnahme zwischen Kirche und SED-Staat“ aufgebrochen zu haben: „Sein Flammentod war definitiv ein Einschnitt für die evangelische Kirche in der DDR.“

„Eine verbale Leichenschändung“

Wenige Tage nach der Selbstverbrennung veröffentlichte das Zentralorgan der SED – das „Neue Deutschland“ – einen Beitrag über Brüsewitz, der ihn als Pfarrer darstellte, der „nicht alle fünf Sinne“ beisammen hätte. Einige wenige Pfarrer schrieben wütende Leserbriefe, darunter der spätere Fraktionsvorsitzende der SPD in der ersten freigewählten Volkskammer 1990 und Theologieprofessor Richard Schröder. Er bezeichnete den Artikel als eine „verbale Leichenschändung“. 30 Jahre später entschuldigte sich das Blatt.

„Wir können uns nicht zu allem äußern“

Die Kirche befand sich in einer großen Schwierigkeit: Sie konnte eine Selbsttötung nicht gutheißen. Andererseits nahm sie Brüsewitz gegen die Verleumdungen im „Neuen Deutschland“ in Schutz. Wer im Westen lebt, sollte vorsichtig sein mit Urteilen über die Haltung von Christen in einer Diktatur. Diese Zurückhaltung braucht es bei den Westkirchen nicht geben. Ihre erste Reaktion löste – zu Recht – Empörung in vielen Medien aus. Denn der Präsident der Kirchenkanzlei in Hannover, Walter Hammer, lehnte am 23. August die Bitte um eine Stellungnahme zu Brüsewitz mit den Worten ab: „Die evangelische Kirche kann sich nicht zu allem äußern.“ Diese Antwort einer Kirche, die damals zu vielen Ereignissen im fernen Chile, Südafrika und Vietnam Stellung nahm, sorgte für völliges Unverständnis.

Wenn sich ein Schwarzer verbrannt hätte

Auch deshalb bildete sich im Dezember 1976 in Westdeutschland zum Gedenken das „Brüsewitz-Zentrum“ in Bad Oeynhausen. Sowohl die Kirchen in der DDR als auch die westliche EKD übten daran scharfe Kritik, obwohl ein EKD-Synodaler – Prof. Joachim Illies – neben 170 anderen meist prominenten Christen zu den Förderern gehörte. In den Jahren nach Brüsewitz’ Fanal gab es keinerlei offizielles Brüsewitz-Gedenken, weder im Osten noch im Westen. Illies äußerte dazu: „Wenn sich in Südafrika ein Schwarzer aus Sorge um die Apartheid verbrannt hätte, wären in West und Ost Kirchen und Universitäten nach ihm benannt und ein Gedenktag ausgerufen worden.“

Selbst im Westen übte die kirchliche Presse größte Zurückhaltung. idea hielt sich nicht daran. Daraufhin wurde der Verfasser dieses Beitrages aufgefordert, zum Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Werner Krusche, nach Magdeburg zu fahren. In dem Gespräch kritisierte der idea scharf, über Brüsewitz breit berichtet zu haben. Für den Bischof war er psychisch gestört gewesen. Und über den Pfarrer seiner Kirche, Klaus-Reiner Latk, meinte er, er sei durch kriminelles Verhalten aufgefallen. Latk wurde nach seiner Unterrichtung der Fernsehkorrespondennten vor die Alternative gestellt, innerhalb von 48 Stunden auszureisen oder in Haft zu kommen. Er wählte um seiner Familie willen die Ausreise. Seine Kirche führte daraufhin ein Disziplinarverfahren gegen ihn durch wegen Entfernens von seiner Gemeinde. Von daher konnte er nach der Ausreise auch nicht mehr im Westen als landeskirchlicher Pfarrer tätig sein. Er wurde Mitarbeiter und später Geschäftsführer der Hilfsaktion Märtyrerkirche in Uhldingen am Bodensee. Erst im Jahre 2003 wurde Latk durch Vermittlung des Nachnachfolgers von Werner Krusche als Bischof der Kirchenprovinz, Axel Noack, rehabilitiert.

Heute sind die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland und die EKD dankbar, mit Brüsewitz einen spektakulären Zeugen des Widerstandes gegen das SED-Regime benennen zu können. Die meisten Historiker sehen ihn heute als Wegbereiter der Friedlichen Revolution von 1989 an. Im Jahr 2000 wurde Oskar Brüsewitz in das Buch „Zeugen einer besseren Welt“ aufgenommen, mit dem die EKD und die katholische Bischofskonferenz die Märtyrer des 20. Jahrhunderts würdigen. Dass man viele Jahre anders geredet und gehandelt hat, daran will man heute nicht mehr erinnert werden.

(Der Autor dieses Beitrages , Helmut Matthies (Brandenburg an der Havel), ist Vorsitzender der Evangelischen Nachrichtenagentur IDEA und Mitherausgeber des im vergangenen Jahr erschienenen Buches „Deutsche Einheit-Hinter den Kulissen“ (concepcionSeidel)

Bildquelle:

  • Selbstverbrennung_Oskar_Brüsewitz: privat

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