Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser!
Heute vor 35 Jahren um diese Uhrzeit wussten wir alle noch nicht, dass wir in ein paar Stunden Weltgeschichte auf deutschen Boden erleben werden.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie der Schuppen in Neukölln hieß, in den Firmengründer Uli Schamoni an seinem 50. Geburtstag viele Freunde und leitende Mitarbeiter des ersten Berliner Privatradios Hundert,6 eingeladen hatte. Ich weiß aber noch, dass Eberhard Diepgen da war, Karl Dall natürlich und dass die Schöneberger Sängerknaben auftraten. Es gab – altes mondänes West-Berlin – Schampus und Hummer, die mit Servierwagen zu den Tischen gefahren wurden. In der Rückschau schon ein wenig dekadent alles.
Irgendwann am Abend kam mein Chefredakteur zu mir an den Tisch und sagte: „Herr Kelle, trommeln Sie die Mannschaft zusammen! Die DDR hat die Grenze aufgemacht…“
Ich muss zugeben, ich verstand erst gar nicht, was er meinte. Die DDR macht keine Grenze auf. Die DDR schießt Menschen in den Rücken, die ihr Land verlassen wollen. Und Genosse Honecker prophezeite seinem Mauerstaat einen langen Fortbestand, als man sich ein paar Wochen vorher im Palast der Republik zum 40-Jährigen bei Rotkäppchen-Sekt ein Stelldichein mit Kreml-Gorbi gab, während draußen das immer unzufriedenere deutsche Volk mit Wasserwerfern und von Stasi-Knüppelschwingern durch die Straßen getrieben wurde.
Ja, die Situation war angespannt, es lag was in der Luft…
Aber die Öffnung der unüberwindbar scheinenden Berliner Mauer? Das hatte niemand von uns erwartet an diesem Morgen des 9. November 1989. Ich nicht, Sie nicht, und die Bundesregierung auch nicht.
Die ganze Nacht bis weit nach Sonnenaufgang stand ich an der Bernauer Straße, am Checkpoint Charlie, dann an der Gedächtniskirche mit meinem Smoking vom Fest noch, der Lederjacke eines unserer Techniker drüber, Kopfhörer auf, Mikro in der Hand und berichtete alle paar Minuten live über die Weltgeschichte vor unseren Augen. Ein unvergessliches Erlebnis.
Jeden Tag war ich danach in Ost-Berlin und dann zunehmend in Ostdeutschland unterwegs, um diesen mir so fremden Teil meines Landes kennenzulernen. So viel habe ich seitdem erlebt, so viele phantastische Menschen kennengelernt, Freunde, Kollegen, politische Mitstreiter, viele bis heute.
Der aus Sachsen stammende Schriftsteller Marko Martin hat mir das gestern wieder noch einmal ins Bewusstsein gerückt, der Mann, der unserem Staatsoberhaupt die Leviten lies, ihn zur Weißglut reizte und auch seinen ostdeutschen Mitbürgern (und den Wessis) Klartext ins Stammbuch schrieb. Sie sollten sich bewusst sein, was sie geleistet und erreicht hätten mit der friedlichen Revolution 1989. Aber sich auch bewusst sein, wer sie sind, was wir sind und auch nicht wegschauen, wenn andere den Kampf für ihre Freiheit und die Zukunft ihrer Kinder kämpfen.
Ich bin bis heute überaus dankbar, dass wir Deutschen wieder in einem Land leben. Ist das einfach? Nein, es ist total schwierig gerade. Aber es ist lösbar alles, mit ein wenig Anstrengung und einem patriotischen Grundgefühl.
Heute Abend trinke ich ein Gläschen Rotkäppchen-Sekt auf Sie alle!
Ihr Klaus Kelle