von ESTHER VON KROSIGK
BERLIN Er war nicht nur Literatur-Schöpfer, er war das Erschaffene selbst: „Ich bin der ganze Roman. Er ist mein Weltverhältnis, mein Schmerzverhältnis, meine Wirklichkeitsstrecke.“, sagte Martin Walser einmal in einem Interview. Jetzt ist der große deutsche Romancier im Alter von 96 Jahren verstorben.
Zählt man seine Werke, so erschaffte sich Martin Walser auf vielfache Weise, denn er war äußerst produktiv. Fast jährlich erschien – die Tagebuch- und Essaybände mitgerechnet – ein neues Buch von ihm. Den Anfang machte Mitte der 1950er-Jahre der Erzählband „Ein Flugzeug über dem Haus“, es folgte 1957 sein Romandebüt „Ehen in Philippsburg“, für das er mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet wurde. Den literarischen Durchbruch brachte „Ein fliehendes Pferd“ im Jahre 1978, in dem der Leser erstmalig Walsers Lieblings-Protagonisten Gottlieb Zürn begegnet.
Walsers Beiname: Der Romantiker vom Bodensee
Auch wenn man Autor und Held nicht gleichsetzen soll – es gab auffallende Parallelen: Wie Walser lebte Roman-Held Zürn an einem See und ging täglich schwimmen. Es dürfte bekannt sein, wie sehr Walser seinen Heimat-See, den Bodensee liebte. Hier war er 1927 als Sohn eines Gastwirts in Wasserburg geboren worden, hatte Kindheit und Jugend verbracht und seine spätere Frau Käthe kennengelernt. Als „Romantiker vom Bodensee“ wurde er oftmals betitelt. Bis ins hohe Alter stieg der Schriftsteller täglich ins Wasser – bei einer Mindesttemperatur von 18 Grad.
Mit Gottlieb Zürn, der dreimal die Hauptrolle in seinen Romanen einnahm („Das Schwanenhaus“, „Jagd“, „Der Augenblick der Liebe“) stimmten auch Alter und Familienstand überein: Verheiratet, vier Töchter. Alle Walser-Mädchen – Franziska, Johanna, Alissa und Theresia – setzten das künstlerische Erbe des Vaters fort und wurden Schauspielerin, Schriftstellerin und literarische Übersetzerin, Dramatikerin. Was Walser von Zürn unterschied: Er hatte noch einen außerehelichen Sohn mit Maria Carlsson, der späteren Ehefrau des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein. Beim ersten Vater-Sohn-Treffen war Jakob Augstein fast 40 Jahre alt und Walser knapp achtzig. Ihr Kennenlernen verarbeiteten sie zu einem Gesprächsbuch, es war ein öffentlicher Befreiungsschlag nach vielen Jahren der Heimlichtuerei.
Er hielt den Deutschen einen Spiegel vor und provozierte Literaturskandale
Walser mischte sich ein. Er war nicht nur der „Chronist der Bundesrepublik“, der durch seine Roman-Figuren mit Namen wie Zürn, Beumann, Kristlein, Halm, Dorn und Fink ein Bild des deutschen Mittelstands zeichnete. Er provozierte Literaturskandale wie den im Jahre 1998, als er in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von der „Instrumentalisierung des Holocaust“ und von der „Moralkeule“ sprach, die er ablehnte. Im Anschluss kam es zu kontroversen Diskussionen und auch zu Protesten – tatsächlich hatte Walser wohl auszusprechen gewagt, was öffentlich nicht ausgesprochen werden durfte. Ihm wurde geistige Brandstiftung vorgeworfen, plötzlich galt der hochgelobte und mit Preisen geehrte Schriftsteller als angeschossen.
Vier Jahre später der nächste Skandal: 2002 entblößte er in seinem Schlüsselroman „Tod eines Kritikers“ den Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki als Symbol einer unredlichen Literaturszene. Eine Debatte war entfacht und wütete wochenlang in den Feuilletons. Es war Walsers letztes Buch, das bei Suhrkamp erschien. Nach dem Tod von Verleger-Freund Siegfried Unseld wechselte Martin Walser zu Rowohlt.
Von Träumen handelt sein letztes Buch
Sein Stil hatte einen hohen Widererkennungswert – er kreierte typische Walser-Wörter wie Trostlosigkeitsglanz, Leichtigkeitsschwere, Illusionsbewirtschaftung. Seine Bücher entstanden von Hand, seine Frau tippte sie in den Computer. Ein großes Thema waren Träume. Auch sein letztes Buch, erschienen im Frühjahr 2022, handelt davon. Es enthält Träume aus 25 Jahren, Walser äußerte einmal zu den Bildern der Nacht: „Aber wie geht es wirklich zu in uns? In unseren Träumen mit diesen wilden Schnittfolgen ist doch jeder ein Dichter. Shakespeare hat nicht anders geträumt als Frau Müller, nur Shakespeare ist damit anders umgegangen.“
Seine letzte Ruhestätte findet der Romantiker vom Bodensee im Familiengrab auf der Wasserburger Halbinsel oberhalb seines geliebten Heimatsees.
Bildquelle:
- Martin Walser: dpa