von KLAUS KELLE
BERLIN – Warum eigentlich immer diese Sieben? „Die glorreichen Sieben“, das ist der Titel eines Filmklassikers aus dem Jahre 1960 mit Yul Brynner, Steve McQueen und Charles Bronson, den Sie alle kennen und – wie ich – zig Mal angeschaut haben. Was viele nicht wissen: der Kinostreifen war ein Remake, also eine Neuverfilmung oder Wiederauflage, eines Streifens, der schon früher auf der Leinwand lief, in diesem Fall „Die sieben Samurai“ von 1954. Tolle Filme, tolle Handlung, denn wir alle lieben Menschen, die etwas Irrwitziges, etwas Gefährliches tun, was wir uns niemals trauen würden. Um einer guten Sache willen, so ganz uneigennützig. Damals ging es im Film darum, ungelernte und ungelenke ganz normale Menschen anzuführen im Kampf gegen üble Bösewichte. Da wurde scharf geschossen, und bei der Erstverfilmung mächtig mit dem Säbel gesäbelt. So richtig Popcorn-Kino, aber Fiktion. Im Deutschen Bundestag riskieren gerade sieben Abgeordnete der CDU Kopf und Kragen, weil sie es gewagt haben, aus der großen Herde auszuscheren. Und weil sie überzeugt sind, das Richtige zu tun, nämlich Deutschland vor dem Irrweg in eine europäische Schuldenunion zu bewahren.
Auf Twitter erregte sich vergangene Nacht der Kölner CDU-Bundestagsabgeordnete Heribert Hirte über das Vorpreschen seiner Kollegen. Er schrieb direkt an die Düsseldorfer CDU-Abgeordnete Sylvia Pantel gerichtet: „So geht das nicht!“ Und weiter: „Die Ansicht der Mehrheit hierzu braucht man nicht zu teilen, aber dagegen gerichtlich vorzugehen, ist meines Wissens ohne Beispiel.“ Das kann man so sehen. Vielleicht ist das durchaus unübliche öffentliche Anzicken einer Fraktionskollegin für einen Kölner gegenüber einer Düsseldorferin eine lässliche Sünde. Vielleicht liegt es auch daran, dass Herr Hirte bekennender Laschet-Fan ist und Frau Pantel…eher nicht. Lassen wir das einfach mal so stehen.
Aber „ohne Beispiel“ ist es zumindest nicht, dass Abgeordnete aus der engen Fraktionsdisziplin ausscheren. Das passiert oft, wenn es um Leben und Tod geht, um Ethik und Moral. Im Artikel 38 unseres wirklich wunderbaren Grundgesetzes wird dem einzelnen Abgeordneten garantiert, dass er bei der Wahrnehmung seiner Amtes – sprich: seines oder ihres Mandats – nicht an Aufträge oder Weisungen, also auch nicht an einen Fraktionszwang gebunden ist, sondern letztlich nur seinem Gewissen folgen soll. Punkt! Und im Grunde genommen könnte jeder das immer tun.
Das Gewissen regt sich aber meistens, wenn es um die großen Fragen der Republik geht, zum Beispiel um Sterbehilfe, um Euthanasie, um Abtreibung und Stammzellenforschung oder um Krieg und Frieden. Oder ob ein Kollaps des deutschen Finanzsystems dadurch ausgelöst werden kann, dass leichtfertig weitere Hoheitsrechte Deutschlands an die Europäische Union (EU) abgegeben werden, in diesem Fall ein Freibrief, dass Brüssel als Gemeinschaft Milliarden über Milliarden Schulden auf den internationalen Kapitalmärkten aufnimmt, und alle EU-Mitgliedsstaaten für die Tilgung haften müssen, auch wenn sie von dem Geld direkt gar nichts bekommen haben.
Also, anders erklärt: Einer Ihrer Nachbarn geht mit einem Papier von Haus zu Haus und wirbt dafür, dass sich alle verpflichten, als Bürgen für einen größeren Kredit zu unterschreiben. Der soll für ein Stück Gehweg sein, der aber nur an drei Grundstücken vorbeiführt. Alle unterschreiben, weil sie ja denken, sie werden nicht in Anspruch genommen, und wir sind ja Freunde. Man ist schließlich eine Gemeinschaft und baut am europäischen Haus mit. Und nun platzt der Kredit aber, weil die drei, die das Geld brauchten, nicht zurückzahlen können. Dann müssen alle für das Pflaster des Gehwegs, von dem sie gar nichts haben, die Zeche zahlen, inklusive der Zinsen natürlich. Wollen wir das? Die große Mehrheit des Bundestages offenbar, die groß Mehrheit von CDU und CSU auch. Nur sieben Abgeordnete – alle von der CDU – haben ein schlechtes Gefühl bei diesem Freifahrtschein. Ihnen ist Deutschland und das Geld der deutschen Steuerzahler wichtiger als Brüssel und Euro-Uschis Fiskalpolitik. Und nu?
Sylvia Pantel, Veronika Bellmann, Dr. Michael von Abercron, Hans-Jürgen Irmer, Dr. Saskia Ludwig, Hans Jürgen Thies und Dr. Dietlind Tiemann – so heißen die Glorreichen Sieben unserer Volksvertretung gerade, und – wie man hört – wächst der Druck auf diese Politiker, die jeder mit einem Kärtchen winken, auf dem „Artikel 38“ steht. Doch wie frei sind die Herrschaften im parlamentarischen Alltag überhaupt noch? Das, was man als Fraktionszwang bezeichnet, ist im Grunde gar kein Zwang, sondern eine freiwillige Selbstverpflichtung. Und die funktioniert so: Zu einem strittigen Thema gibt es eine ausführliche kontroverse Diskussion. Es wird abgestimmt, und die Minderheit schließt sich dann dem großen Rudel wieder an, weil man ja nicht will, dass dieses Rudel zerfällt. Und das ergibt durchaus einen Sinn, auch wenn es so schön gefühlig und revolutionär klingt, wenn von Basis und Volk gesprochen wird.
Die Wahrheit ist nämlich, dass das Volk eine Handvoll Politiker aus dem Fernsehen kennt, aber nur ein ganz kleiner Teil der Wähler in einem Wahlkreis die Direktkandidaten und ihre Ziele persönlich. Man liest mal etwas in der örtlichen Zeitung oder hört ein 45-Sekunden-Interview im Lokalradio, die meisten tun nicht einmal das. Aber am Sonntag gehen sie ins Wahllokal und machen ihre Kreuze hinter Personen, deren Namen viele vorher nicht einmal gehört haben, geschweige die Kandidaten zu kennen. Und wo kreuzen sie an? Genau! Hinter dem Namen, wo die Partei notiert ist. Auch bei den Direktkandidaten ist der Parteiname ausschlaggebend. Und die Wählerin macht ihr Kreuz dann nicht hinter Lydiawerweißwas, sondern sie macht es, weil dahinter „Die Grünen“ steht.
Und das muss man wissen, um zu verstehen, warum Abgeordnete in 99 Prozent der Fälle mit ihrem Rudel (darf man das noch sagen?) stimmen. Weil nämlich ihre Wähler ein Recht darauf haben, dass auch ihr Wahlkreiskandidat später im Parlament die Politik der Partei vertritt, wegen der man den unbekannten Karl Müller angekreuzt hat.
Also, Fraktionszwang ist gar kein Zwang, denn jeder Abgeordnete kann jederzeit gegen seine Leute stimmen. Aber macht er das mehrfach, dann ist er eben weg, der Abgeordnete.
Ich weiß nicht, ob ein solches Schicksal den sieben CDU-Parlamentariern jetzt drohen wird, denn im September wird gewählt, und Wahltag ist bekanntlich Zahltag. Aber sie stehen, und sie können nicht anders, sagen sie. Und eigentlich sollte die Union froh sein, Politiker zu haben, die um den richtigen Weg für unser Land ringen. Und sollte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe – übrigens acht, nicht sieben Richter – den unseligen Beschluss zur Schuldenunion kassieren und diesen Irrweg stoppen, dann kann die CDU hinterher sagen: Seht mal, die haben unsere aller Ehre gerettet. Weil nämlich die Union immer dafür stand, eine EU-Fiskalunion zu verhindern, und weil Bundeskanzler Helmut Kohl bei den Deutschen einst mit dem knallharten Versprechen für den Euro und die Abschaffung der D-Mark geworben hat, dass es auf keinen Fall so eine EU-Schuldenunion geben wird, wie sie jetzt von Merkel, Scholz, Brinckhaus und Konsorten eingeleitet worden ist.
Hoffen wir, dass Karlsruhe das alles aufhält. Und wenn es gut ausgeht, dann schicken wir anschließend Blumen an die Glorreichen Sieben in der Unionsfraktion!
Bildquelle:
- Die_gloreichen_Sieben: thegermanz