von MARTIN D. WIND
BRÜSSEL – Es waren magere Jahre, die majestätische Geier nach einer jahrhundertlangen Abwesenheit wieder nach Deutschland zurückkehren ließen. Es war Hunger, der sie trieb. 2002 hatte die „Europäische Union“ (EU) angeordnet, dass verendete Weidetiere von den Besitzern der Landschaft entnommen und „sicher“ entsorgt werden müssen. Vorgeblich aus Hygiene- und Seuchenschutz. Das kann man so machen. Man sollte aber vorher darüber nachdenken. Am besten vom Ende her. Und man sollte sich von seriösen Naturkennern beraten lassen, die erkennbar keiner Interessengruppe in die Hände spielen oder Geschäftsfelder für Nichtregierungsorganisationen erschließe.
Nach der verheerenden Verordnung der EU gab es in den bisher noch übrig gebliebenen Verbreitungsgebieten der Geier in Europa – Spanien, Portugal und Griechenland – selbst in den abgelegensten Gegenden für die großen Segler kaum mehr was zu beißen. Und das, was da noch unentdeckt in der Natur herumlag, reichte vorne und hinten nicht. Selbst abgelegene Futterplätze durften nicht mehr beschickt werden. Und so nimmt es kaum Wunder, dass mit Beginn der 2000er Jahre und signifikant ab 2003/4 vermehrt Einflüge von Geiern in den deutschen Luftraum registriert werden konnten. Seit Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts waren die Tiere hier ausgerottet. Die letzten Lämmer- bzw. Bartgeier, wie sie mit offiziellem Namen heißen, waren im Alpenraum getötet worden. Die neuen Überflieger waren Gänsegeier, Bartgeier, Mönchsgeier oder auch Schmutzgeier und sogar Kappengeier.
Bis in die frühen 2000er Jahre hinein gab es immer mal wieder Sichtungen von vereinzelt oder auch zwei bis drei gemeinsam durchfliegenden Geiern über deutschem Territorium. Ab 2002 gehen die Zahlen der Einflüge und vor allem auch die Zahl der gemeinsam auftretenden Tiere, signifikant in die Höhe: So wurde 2002 erstmals eine Gruppe mit mehr als 20 Geier gesichtet, die über Nordrhein-Westfalen auftauchten und die Menschen dort in Erstaunen versetzten. 2007 konnten dann schon mehr als 70 der Aasfresser über Mecklenburg-Vorpommern gezählt werden. Diese Tiere brüten hier (noch) nicht. Forscher meinen, es handle sich insbesondere um Trupps von Jungvögeln, die sich gemeinsam auf sogenannte Futterflüge begeben. Dass sie dafür mindestens 3000 km Luftlinie bis Deutschland und wiederum 3000 km Rückflug in Kauf nehmen, zeigt, wie groß die Not ist.
Das ging so weit, dass vereinzelt in Spanien Geierschwärme das taten, was Greifvogelfachleute immer in Abrede gestellt hatten: Ausgehungerte Vögel griffen große Schafherden an und sorgten so für das Aas, das ihnen auf natürliche Weise nicht mehr zufiel. Oder sie griffen Kälber direkt nach der Geburt an und hackten sie tot. In der Provinz Burgos wurden im ersten Halbjahr 2007 mehr als 40 schwere Angriffe bekannt. Keine Situation, um Sympathien für diese seltenen Tiere aufzubauen. Selbst in der EU dämmerte es sogar den Bürokraten langsam, dass sie es zwar „gut gemeint“ aber sehr schlecht gemacht hatten. Es waren nicht nur die Geier, die unter diesen Vorschriften litten. Auch andere Beutegreifer, aber auch Flora und aasfressende Fauna litten unter dem Entzug von Nahrung und bei der Verwesung freiwerdender Spurenelemente: An Luderplätzen konnte eine weit größere Biodiversität für Flora und Fauna nachgewiesen werden, als das an Vergleichsflächen ohne Verwesungsrückständen der Fall ist. Auch die Biomasse und die Pflanzengesundheit nahmen zu.
Auf EU-Ebene scheint seit 2009 das Verbot der Anlage von Futterstellen nicht mehr so scharf verboten, wie das bisher der Fall war. Selbst in Deutschland trauen sich einige kleine Ornithologenvereine gemeinsam mit unbürokratischen Landkreis- bzw. Regierungsbezirksverantwortlichen, Fütterungsstellen für Geier anzulegen, die regelmäßig mit Kadavern bestückt werden. Es sollte nicht sein, dass Geier hier in Deutschland sich Futter auf Mülldeponien suchen, so wie das schon vorkam. Vor allem angesichts der Wiederansiedlungsbemühungen für Bartgeier im Alpenraum, wäre das ein Paradox.
Gerade erst wurden in Bayern in den Berchtesgadener Alpen zwei Bartgeierweibchen „ausgewildert“. Sie werden bei einer erfolgreichen Wiederansiedlung, mit den Artgenossen aus den Hohen Tauern in Österreich und in der Schweiz eine mitteleuropäische Population gründen, die ohne menschliches Zutun selbst reproduktionsfähig ist. Schade nur, dass es sich nicht um „echte“ Alpenbartgeier handelt. Deren letztes Exemplar war um 1910 geschossen worden. Die Alpenbartgeier somit – im Gegensatz zu den wiederkehrenden Wölfen, die nur nach Osten verdrängt worden waren – ausgerottet. Die jetzigen Bartgeier stammen aus Asien, Griechenland und aus Zuchtprogrammen in Frankreich.
Doch auch diese Bemühungen um ein Wildtier sind schon wieder gefährdet: Das Schmerzmittel Diclofenac wurde – auch wieder von der EU – als Entzündungshemmer in der Tiermedizin zugelassen. Diclofenac verursacht bei Vögeln eine Art Gicht, die zum Nierenversagen führt. In Spanien wurde der erste an Diclofenac im Nest verendete Jungvogel gefunden. Hoffen wir, dass das Licht der Erkenntnis dieses Mal nicht sieben Jahre braucht, um in die Köpfe der EU-Bürokraten zu scheinen. In Asien hat Diclofenac zum Tod von beinahe 90 Prozent aller Geier geführt, bis das Schmerzmittel in der Tiermedizin endlich verboten wurde.
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- Bartgeier: pixabay