«Ein Land, zwei Systeme»: Hongkong am Scheideweg – die Souveränität bröckelt, Kritiker verschwinden plötzlich

Die Skyline von Hongkong. Mitte 1997 war die britische Kronkolonie zurück an China gefallen. Foto: Bernd von Jutrczenka

Die zierliche Chinesin stand als «Nummer Zwei» für Kontinuität. Denn sie diente nach der Rückgabe der Kronkolonie am 1. Juli 1997 an China auch dem ersten Regierungschef Tung Chee-hwa unter chinesischer Souveränität.

«Ich habe der ausländischen Gemeinschaft damals gesagt: Macht Euch keine Sorgen. Hongkong wird so bleiben wie es ist», sagt die heute 77-Jährige Chan. «Ich muss sagen, wenn ich vorhergesehen hätte, was heute in Hongkong passiert, hätte ich das nicht mit solchem Enthusiasmus getan.»

Zwei Jahrzehnte später ist aus Chinas Gehilfin im Übergang eine scharfe Kritikerin geworden. Trotz aller Verdienste für Peking hat die «Eiserne Lady Hongkongs» heute sogar Angst um sich persönlich. Über die Grenze nach China reist sie nicht mehr. Sie fürchtet, dass irgendwelche chinesischen Agenten Anstoß an ihrer Kritik nehmen und sie verschwinden lassen könnten. Einen ausländischen Pass, der sie schützen könnte, besitzt sie nicht.

Das mysteriöse Verschwinden von fünf Herausgebern china-kritischer Bücher aus Hongkong oder des Milliardärs Xiao Jianhua, der Geschäfte mit Chinas Machtelite gemacht hatte, weckt nach Chans Ansicht eindeutig Fragen nach der persönlichen Sicherheit. Kein Zweifel: Der Schock unter den sieben Millionen Hongkongern über den immer länger werdenden Arm chinesischer Staatsorgane sitzt tief.

Eigentlich genießt die chinesische Sonderverwaltungsregion «ein hohes Maß an Autonomie». Nach seinem Grundgesetz wird Hongkong als gesondertes Territorium mit Staats- und Zollgrenzen, eigener Polizei und unabhängiger Justiz eigenständig regiert. Chinas Agenten haben in Hongkong nichts zu suchen. Aber während die Hongkonger «zwei Systeme» betonen, stellt Peking heute «ein Land» zunehmend an erste Stelle.

«Das China von heute unterscheidet sich stark von dem China, das unter Deng Xiaoping «ein Land, zwei Systeme» ausgehandelt hat», sagt Chan. Damals war die Wirtschafts- und Finanzmetropole das «Tor zu China». «In jenen Tagen brauchten sie Hongkong dringend.» Chinas kommunistische Führer benötigten Hongkongs Geld, Führungsqualitäten, berufliches KnowHow und Verbindungen in die Welt, um ihre marktwirtschaftliche «Reform und Öffnung» voranzubringen.

«Aber heute sind sie zunehmend aggressiv», sagt Chan. «Sie sind eine Wirtschaftskraft, mit der gerechnet werden muss. Und der Rest der Welt gibt ihnen zu verstehen, dass sie fast alles machen können, was sie wollen.» Die Briten als alte Kolonialherren, aber auch andere Europäer wie die Deutschen müssten deswegen stärker für Grundrechte eintreten, fordert Chan. «Wer ihnen erlaubt, mit ihrem Mobbing davonzukommen, erntet nicht den Respekt der chinesischen Führung.»

Während Chan derart nicht mit Schelte spart, blickt der langjährige Parlamentspräsident Jasper Tsang wohlwollender in die Geschichte. Er gehört zum Peking-freundlichen Lager in Hongkong, vertuscht die Probleme aber nicht und ist sehr populär. Die pragmatische Formel «ein Land, zwei Systeme», habe schon «ziemlich gut funktioniert», sagt Tsang. «Viel besser als viele Leute anfangs erwartet haben.»

Es gebe soziale Probleme, schlechte Kooperation zwischen dem auserkorenen Regierungschef und dem ebenfalls nicht frei gewählten Parlament in Hongkong, das nur eine begrenzte Rolle spielen könne. Viele Menschen hätten das Gefühl, dass ihre Stimme nicht gehört werde. «Besonders die jungen Leute glauben, dass alle sozialen Probleme auf die undemokratische Natur der Regierung zurückzuführen sind.» Hongkongs Führer suchten zudem immer seltener den Konsens, was tiefer in eine Sackgasse führe, warnt Tsang.

Der Versuch, nationale Sicherheitsgesetze in Hongkong einzuführen, und die Weigerung, wie versprochen allgemeines Wahlrecht zu erlauben, habe zu wachsendem Widerstand gegen Peking geführt, sagt er. Nach der «Regenschirm-Bewegung» 2014 für mehr Demokratie, die Teile der asiatischen Wirtschafts- und Finanzmetropole wochenlang lahmgelegt hatte, suchten Chinas Führer jetzt mehr Einfluss und Kontrolle.

«Hongkong steht am Scheideweg», sagt Tsang. «Die nächsten zehn Jahre sind entscheidend.» Der Status Quo ist nur über 50 Jahre bis 2047 garantiert. Viele sorgten sich um die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Presse, die unter Druck gerieten. Peking wolle ein «gesäubertes System, wo ein Richter immer zugunsten der Partei entscheidet, die Medien unkritisch sind und die Opposition nicht vom Volk unterstützt wird», beklagt Tsang. «Aber das ist nicht Hongkong.»

Bildquelle:

  • Skyline von Hongkong: dpa

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