Droht ein dritter Weltkrieg? Es ist an der Zeit, uns von unserer Naivität zu verabschieden“

Der Zeiger der Uhr rückt unerbittlich voran

von KLAUS KELLE

BERLIN – Stehen wir vor Ausbruch eines dritten Weltkrieges? Noch Anfang dieses Jahres hätte man das mit einer Handbewegung als Unsinn beiseite gewischt. Das „Gleichgewicht des Schreckens“ hat über Jahrzehnte perfekt funktioniert. Sowjets/Russen und Amerikaner/NATO wussten: wer zuerst den Raketenknopf drückt, stirbt als Zweiter. Und wer will schon sterben außer bekloppten Islamisten?

Doch heute ist die Situation eine andere

Und das ist erstaunlich, denn es läuft nicht gut für Wladimir Putin und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ja, sie erobern jeden Tag ein, zwei Dörfer im Donbass, in denen kaum noch Menschen leben und die zu 80 Prozent zerstört sind. Ein barbarisches Vorgehen. Glauben Sie nicht? Ist Ihnen egal? Dann sind Sie entweder nicht mehr zu retten, oder Sie sollten sich die Zeit nehmen und auf Youtube den Dokumentarfilm „20 Tage Mariopol“ von Mstyslaw Tschernow anschauen!

Ein internationales Reporterteam von Associated Press (AP) war in der von russischen Truppen eingekesselten ukrainischen Stadt, als letzte Journalisten vor dem Fall. Sie dokumentieren die russische Bombardierung einer Entbindungsklinik, wir sehen schwangere Frauen, die mit ihrem Kind im Bauch sterben, Massengräber, einen Vater, von Weinkrämpfen überwältigt, neben seinem blutenden sterbenden Baby. Das alles ist nichts für schwache Nerven, aber die Welt muss wissen, was da passiert. Und was in Butscha passiert ist, die Vergewaltigungen, das Massaker an ganzen Familien, das Tontaubenschießen lachender russischer Soldaten auf Zivilisten, die einfach auf der Straße langgehen oder mit dem Fahrrad vorbeifahren. Zur falschen Zeit am falschen Ost.

Krieg ist immer barbarisch

Natürlich, das erste Opfer im Krieg ist immer die Wahrheit, das zweite die Menschlichkeit.

So wie das Massaker amerikanischer Soldaten im Vietnamkrieg in My Lai 1968, so wie die Folter Gefangener im berüchtigten Gefängnis von Abu Ghraib im Irak. So wie die Nazi-Schergen in den Konzentrationslagern, Familienväter, die durch Aufstachelung des Hasses gegen eine ganze Bevölkerungsgruppe entmenschlicht werden und vergewaltigen, morden und foltern.

Und deshalb ist es folgerichtig, wenn kriegsführende Parteien nicht nur auf Panzer, Gewehre und Kampfflugzeuge setzen, sondern den Kampfeswillen des Gegners zu brechen versuchen.

Die USA haben den Vietnamkrieg nicht militärisch verloren. Die verstörenden Bilder aus dem Krieg, wie das berühmte Foto vom 1. Februar 1968 aus Saigon, haben die amerikanische Öffentlichkeit dermaßen schockiert, dass man einfach bei dieser Barbarei nicht mehr dabei sein wollte. Gerade Amerika nicht, denn „wir tun sowas nicht“.

Auf diesem Bild ist ein dünner Mann in kurzer Hose und kariertem Hemd zu sehen, die Hände auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt, der Blick auf den Boden gerichtet. Von rechts kommt ein anderer Mann ins Bild, streckt den Arm mit einem Revolver aus und schießt dem Wehrlosen in den Kopf. Einfach so

Und genau in diesem Moment fotografiert der amerikanische Fotograf Eddie Adams diesen Mord, begangen vom damaligen Polizeichef von Saigon. Er geht vorbei und schießt dem Mann – Nguyen Van Lem – einem 30-Jährigen Familienvater so nebenbei in den Kopf. So beiläufig, wie wir heute auf dem Weihnachtsmarkt einen Glühwein bestellen. Es ist unfassbar, zu was Menschen fähig sind. Und das Opfer war bestimmt kein Chorknabe, er gehörte zum kommunistischen Vietcong, hat vermutlich auch Südvietnamesen und amerikanische Soldaten umgebracht. Aber wollen wir tatenlos in einer solchen Welt wegschauen? So etwas tun Menschen nicht. In einer anständigen Welt. Leider haben wir die nicht.

Die Russen, ihre Strategen, ihre Trollfabriken wissen all das. Und deshalb wenden Sie irre Geldsummen auf, um die öffentliche Meinung in den freien Gesellschaften des Westens zu beeinflussen. Sie erfinden täglich neue Hetzgeschichten, um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu entmenschlichen. Manche sind dabei so doof, dass man eigentlich lachen muss, wenn man zum ersten Mal davon hört.

So wie bei der Schlagzeile „Selenskyj kauft Spielcasino auf Zypern für 60 Millionen“, was die deutschen Putin-Fanboys dann eifrig verbreiten mit dem weiteren Schwachsinn, er habe das Casino gekauft mit dem Geld, was er von deutschen Steuerzahlern überwiesen bekommen habe. Und ein Teil der deutschen Bevölkerung glaubt den Schmarrn, ganz einfach, weil sie es glauben wollen.

Oder Frau Selenkyj und ihre angebliche Einkaufstour von Seidenwäsche in London, während in der Ukraine ein grauenhafter Krieg tobt. Und niemand vom aufnahmebereiten Publikum fragt sich, wie es sein kann, dass zeitgleich eine Rechnung der Dessous, die sie angeblich gekauft habe, im Netz auftaucht. Dass solche und viele andere Geschichten einfach erfunden worden sind, um Stimmung gegen die ums Überleben kämpfende Ukraine zu machen, um den Unterstützungswillen der Deutschen zu schwächen – darauf kommen sie nicht, weil sie es nicht wollen.

Ich habe mich schon als Jugendlicher oft gefragt, wie das bei den Nazis damals möglich war. Warum anscheinend das ganze Volk durchgedreht ist und „Heil, Hitler!“ gebrüllt hat. Und als am 9. November 1938 überall „im Reich“ Synagogen angezündet und Jüdische Geschäfte geplündert wurden, da ging das Leben in Deutschland einfach weiter. Am Tag danach waren die Restaurants und Theater in Berlin gut gefüllt. Kein Grund zur Aufregung, es waren ja „nur Juden“….

Es ist erschreckend, dass zwei Drittel der Bevölkerung auf Knopfdruck bereit ist, eine von oben vorgegebene Sichtweise zu vollziehen. Auch heute noch, wenn sie an das angeblich so rechte „Geheimtreffen“ in Potsdam denken. Eine völlig belanglose Veranstaltung wird skandalisiert, und eine Woche später sind Hunderttausende auf den Straßen, weil jetzt „Rechts“ als der Feind ausgerufen wurde. Auf Knopfdruck marschieren sie. Wahnsinn, oder?

Russland ist führend, wenigstens bei Produktion und Verbreitung von Fake News

KI-Bots und Trolle fluten das Internet jeden Tag in vielen Sprachen mit Fake News und gefälschten Webseiten. Und es wird viel Geld in die Stimmungsmache gesteckt, es werden Filme produziert, in einem Fall sogar mit westafrikanischen Einwanderern als Schauspieler auf Straßen St. Petersburgs. Und jeden Tag entstehen neue Internetportale, von denen vorher noch nie jemand gehört hat, die aber ganz genau wissen wollen, was Herr Selenskyj für Schwarzkonten besitzt oder auch mit welchen Liebhabern sich Frau Nawalny angeblich vergnügt, während ihr Mann in einem Straflager von Putin unter seltsamen Umständen verstarb.

Selbst, wenn es stimmen würde…

Nichts davon hat etwas damit zu tun, dass Wladimir Putin ein Massenmörder ist, der mindestens 650.000 Tote in der Ukraine schon jetzt auf dem Gewissen hat. Verkrüppelte Männer, vergewaltigte Frauen, verschleppte Kinder. Darüber sprechen wir nicht, aber über angebliche Einkäufe von Strumpfhosen von Frau Selenskyj. Und glauben sie nicht, dass das einfach so passiert. Das wird bewusst so gestreut, um die Bereitschaft von uns auszuhöhlen, der Ukraine beizustehen.

Wir müssen darüber reden, immer und immer wieder

Wir müssen uns klar werden, dass wir Deutsche, wie Europäer, der ganze Westen an der Schwelle eines großen Krieges stehen.

Begonnen hat es bereits.

Russische Saboteure und Agenten greifen die kritische Infrastruktur in unseren Ländern an, Kabel am Grund der Ostsee, höchstwahrscheinlich gehört auch die Sprengung der Nord Stream-Röhren dazu. Hackerangriffe aus Russland auf Ministerien, Behörden und den Deutschen Bundestag gibt es jeden Tag. Russland schickt auch mal Mörder, um in Deutschland Leute umzubringen. So wir am 23. August 2019 Selimchan Changoschwili im Berliner Tiergarten. In Tatortnähe konnte die Polizei seinen Mörder festnehmen – er heißt Wadim Nikolajewitsch Krassikow, ist russischer Staatsbürger, ein Agent, der im Auftrag des russischen Geheimdienstes FSB in Deutschland mordete.

Denken Sie an den Fall des CDU-Bundesabgeordneten Andreas Schockenhoff

Der 57-Jährige starb am Samstag vor dem dritten Advent 2014 in der Sauna seines Hauses in Ravensburg. Angeblich an Herzversagen, genau konnte die Todesursache aber nicht bestimmt werden, jedenfalls fanden sich „Verbrühungen“ an seinem Körper.

2014 – das Jahr, in dem Russland die Krim völkerrechtswidrig einverleibt hatte.

Schockenhoff war damals „Russland-Beauftragter“ der Bundesregierung. Mutig und ohne jede Zurückhaltung kritisierte er öffentlich die Einschüchterung der Opposition in Russland, das Niederknüppeln von Demonstrationen und den Schauprozess gegen die schräge „Pussy Riot“-Truppe. Und er forderte verschärfte Sanktionen gegen Russland.

Stirbt so ein Mann, 57 Jahre alt, samstags in der Sauna? Einfach so?

Russland bereitet sich auf einen Krieg vor, davon bin ich inzwischen zutiefst überzeugt.

Nicht nur der Angriff auf die Ukraine oder die Desinformationsflut gegenüber unsere Gesellschaften, sondern auch die Destabilisierung der EU-Beitrittskandidaten Moldau und Georgien, die Sabotageakte – warum stürzte nochmal das DHL-Flugzeug in Litauen ab? – sondern auch Putins Einflussnahme in der Sahelzone, die Positionierung der Brics-Staaten gegen den Westen. All das passiert nicht zufällig.

Es ist an der Zeit, Abschied zu nehmen von unserer Naivität im Westen und uns auf das Schlimmste vorzubereiten.

Bildquelle:

  • 5 vor 12: depositphotos

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Über den Autor

Klaus Kelle
Klaus Kelle, Jahrgang 1959, gehört laut Focus-online zu den „meinungsstärksten Konservativen in Deutschland“. Der gelernte Journalist ist jedoch kein Freund von Schubladen, sieht sich in manchen Themen eher als in der Wolle gefärbten Liberalen, dem vor allem die Unantastbarkeit der freien Meinungsäußerung und ein Zurückdrängen des Staates aus dem Alltag der Deutschen am Herzen liegt. Kelle absolvierte seine Ausbildung zum Redakteur beim „Westfalen-Blatt“ in Bielefeld. Seine inzwischen 30-jährige Karriere führte ihn zu Stationen wie den Medienhäusern Gruner & Jahr, Holtzbrinck, Schibsted (Norwegen) und Axel Springer. Seit 2007 arbeitet er als Medienunternehmer und Publizist und schreibt Beiträge für vielgelesene Zeitungen und Internet-Blogs.