„Die Stimmen der Opfer“: Die dunkle Zeit aus Sicht von Menschen, die dabei waren

Der alltägliche Hass gegen Juden zur Zeit der Nazi-Diktatur.

von PORF. FELIX DIRSCH

BERLIN – Zu den umstrittenen Feldern der mittlerweile hochspezialisierten Nationalsozialismus- und Zeitgeschichtsforschung zählt jener Bereich, der sich mit dem Verhalten der Mehrheitsbevölkerung in Deutschlands dunklen Jahren beschäftigt. Wie verhielt sich „das“ Volk? Wie hoch war der Anteil der überzeugten, ideologisch gesinnten Nationalsozialisten? Wie stark war die Gruppe der Mitläufer, wie zahlreich jene, die den staatlichen und parteilichen Anordnungen zumindest reserviert gegenübergestanden sind? Wie viele der Einwohner kann man prozentual zu den echten Widerstandskämpfern rechnen?

Kategorien, die damaligen Zeitzeugen einzuteilen, gibt es noch weitere. Allerdings kranken sie ein wenig daran, dass eine genaue und 100-prozentige Einordnung nur bei wenigen möglich ist. Bei der Mehrzahl dürfte eine genaue Einstufung unmöglich sein.

Bei der Konzeption der Studie haben die Autoren eine Vorüberlegung angestellt: Wie lässt sich am ehesten ein Einblick in das Verhalten der Mehrheitsbevölkerung gegenüber verfolgten Juden gewinnen? Die Nachgeborenen sind auf das Zeugnis jüdischer Opfer angewiesen. Das verschafft einen plausiblen Zugang zu den Ereignissen. Gegen eine entsprechende Auswahl an Quellentexten kann man natürlich in jedem Fall Einspruch erheben. Es handelt sich ja notgedrungen um eine Auswahl. Nur muss der Kritiker in diesem Fall aber legitimerweise angegeben, welche Quellengrundlage er stattdessen vorzieht, um sich an die Vorfälle von 1933 bis 1945 hermeneutisch anzunähern, nachdem er nicht auf eigene Erfahrungen und Erlebnisse zurückgreifen kann. Was ist geeigneter, als die Betroffenen (soweit möglich) selbst zu Wort kommen zu lassen?

Natürlich sind die festgehaltenen Eindrücke von Verfemten und Diskriminierten unterschiedlich, da ja sowohl ihre Umgebung als auch ihre Situation von 1933 bis 1945 verschieden zu bewerten sind. Dennoch zeigt die Häufung bestimmter Erfahrungen dieser (keineswegs homogenen) Gruppe einen groben Trend, der manchen vielleicht bemerkenswert erscheint.

Ein Großteil der ausgewerteten Quellen, die in dem jüngst erschienenen Buch der Politikwissenschaftler Konrad Löw und Felix Dirsch „Die Stimmen der Opfer. Zitatelexikon der deutschsprachigen jüdischen Zeitzeugen zum Thema: Die Deutschen und Hitlers Judenpolitik“ (Verlag Inspiration Un Limited: Berlin 2020) in Auszügen abgedruckt sind, kommt zu einem klaren Ergebnis: Die Mehrzahl der jüdischen Zeitzeugen stimmte dem Urteil zu, das der Journalist und Liederdichter Jochen Klepper, der mit seiner jüdischen Frau den Freitod wählte, in einem Tagebucheintrag sogleich nach der Reichspogromnach 1938 notiert hat: „Das Volk ist ein Trost“. Klepper hatte die relativ hohe Missbilligung breiterer Bevölkerungsschichten gegenüber den im November dieses Jahres verübten Gewalttaten auf Eigentum und (noch schlimmer) Leib und Leben vieler Angehöriger des mosaischen Glaubens und Herkunft sensibel registriert.

Natürlich spiegeln sich in den Beobachtungen notwendigerweise subjektive Erfahrungen. Aber die Häufung solcher Erlebnisse (etwa die in hohem Maße praktizierte Solidarität vieler „arischer“ Zeitgenossen), von denen viele Stigmatisierte berichtet haben, ist durchaus aussagekräftig.

Es geht den Autoren um Gerechtigkeit für die Vorfahren, denen zu Unrecht unterstellt wird, sie seien pauschal einem „Tätervolk“ zuzurechnen. An der (zum Teil großen) Schuld im Einzelfall, etwa seitens führender Nationalsozialisten, Mitläufer und SS-Leute, rütteln Dirsch und Löw selbstverständlich nicht, ganz im Gegenteil. Ihnen geht es um Beobachtung der Reaktionen des „Volkes“, wobei sie wissen, dass diese analytische Kategorie außerordentlich umfassend, also wenig konkret ist.

Die beiden Verfasser haben sich bereits längere Zeit mit der komplexen Thematik beschäftigt. Konrad Löw (als Jahrgang 1931 noch Angehöriger der Erlebnisgeneration) hat eine Reihe einschlägiger, umfangreicherer Publikationen vorgelegt, darunter die Abhandlungen „Deutsche Schuld 1933-1945?“ (München 2010) und „Das Volk ist ein Trost“ (München 2005). Nachdem nunmehr etliche Monographien zur Thematik vorliegen, die die These der Kollektivschuld kritisch beleuchten, schien den Autoren ein anderes Projekt angemessen: die Abfassung einer Darstellung im lexikalischen Stil. Sie garantiert einen leichten Zugriff auf die Dokumente. Der interessierte Leser kann so jedes Zitat überprüfen.

Zusammen haben Löw und Dirsch vor wenigen Jahren das Buch „München war anders“ (Reinbek b. Hamburg 2016) auf den Markt gebracht, das einige Einseitigkeiten des vielgelobten Münchner NS-Dokumentationszentrums herausarbeitet. Auch in dieser Untersuchung werden viele Quellen vorgestellt. An diese Art der Präsentation konnte auch das jüngste Werk anschließen, das den Untersuchungsbereich auf das ganze deutsche Reich, in Ausnahmefällen darüber hinaus, erweitert.

Den „Stimmen“ geht es nicht zuletzt darum, dass das Buch ein repräsentatives Spektrum des damaligen Judentums abbildet: liberale und orthodoxe Vertreter, Akademiker wie Handwerker, Frauen und Männer, Junge wie Alte, Bewohner von Städten und Dörfern und so fort. Die 250 Zeugnisse sprechen für sich. Kommentare der Autoren sowie der Lebenslauf der Ausgewählten sind daher eher kurz gehalten.

Die meisten der präsentierten Juden dürften dem nicht zünftigen Leser unbekannt sein. Gleichwohl findet man auch eine Reihe namhafter Vertreter. Zu ihnen zählt der Romanist Victor Klemperer (1881-1960), dessen autobiographische Betrachtungen „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945“ als Welterfolg gelten. Zu den bekannten Zeitzeugen kann man außerdem (in Auswahl) Hans Rosenthal, Charlotte Knobloch, Ralph Giordano und Hannah Arendt rechnen. Der Verleger des Buches, Konrad Badenheuer, hat von einem „aufwühlenden Buch“ gesprochen, das einen kritischen Beitrag zu der seit über 75 Jahren omnipräsenten Frage leisten soll: Wie waren die beispiellosen Verbrechen möglich, die im deutschen Namen geschehen sind? Der Rezipient soll entscheiden, ob den beiden Professoren dieses Ziel gelungen ist.

Konrad Löw / Felix Dirsch: Die Stimmen der Opfer. Zitatelexikon der deutschsprachigen jüdischen Zeitzeugen zum Thema: Die Deutschen und Hitlers Judenpolitik, Verlag Inspiration Un Limited: Berlin 2020, 391 Seiten, 15,90 Euro.

Bildquelle:

  • Antisemitismus_Cuxhaven: theGermanZ

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