Die rote Sahra und ihre Unschärfen beim Thema Russland

BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht

von LUKA MIHR

BERLIN – BSW-Chefin Sahra Wagenknecht versucht zuweilen, sich in Sachen Ukraine-Krieg vom Putin-Russland zu distanzieren. Dabei lässt sie jedoch Konsequenz und Glaubwürdigkeit vermissen.

Russland hat faktisch kein Interesse, einzumarschieren. Wir können heilfroh sein, dass Putin nicht so ist, wie er dargestellt wird: ein durchgeknallter Nationalist, der sich berauscht, Grenzen zu verschieben. […] Die Aggressivität mit der – vor allem von amerikanischer Seite – ein russischer Einmarsch geradezu herbeigeredet wird, also die ist ja schon bemerkenswert. Man hat manchmal schon das Gefühl, hier ist der Wunsch der Vater des Gedankens. […] Es ist doch eine Katastrophe, dass Russland aktuell offensichtlich gar keinen anderen Weg mehr sieht außer das wörtliche Säbelrasseln, um irgendwie seine Sicherheitsinteressen berücksichtigt zu sehen.

Mit dieser Einschätzung lag Sahra Wagenknecht weit daneben, denn nur wenige Tage später machte Putin ernst und ließ die russische Armee tatsächlich in der Ukraine einmarschieren. Seitdem sind – je nachdem, wem man Glauben schenken mag – etwa 100.000 bis 200.000 Menschen auf beiden Seiten gestorben.

Im Interview mit dem ZDF bezog Wagenknecht nun Stellung zu ihren damaligen Aussagen:

„Ich habe mich damals auch geirrt. Ich habe gedacht, das ist eine Drohgebärde.“

Doch sah sie die Schuld dafür nicht bei sich selbst. Denn schließlich habe sie sich nur auf die Angaben des BND verlassen, der dies so im Bundestag vorgetragen habe. Mal angenommen, das stimmt, enthebt das Wagenknecht nicht von der Pflicht, sich ein eigenes Urteil zu bilden, denn im Februar 2022 gab es genug Menschen, die das kommende Unheil sahen. Und auch die CIA warnte vor dem Einmarsch. Doch dies sah Wagenknecht, wie oben gezeigt, nur als ein „Herbeireden“ des Krieges.

Aber stimmt ihre Aussage? Das lässt sich leider nicht mit Sicherheit feststellen, ist aber unwahrscheinlich. Wenige Tage vor Kriegsausbruch hatte BND-Vize Wolfgang Wien vor dem Verteidigungsausschuss des Bundestages einen Lagebericht abgeliefert. Da dessen Sitzungen vertraulich sind, ist der Wortlaut nicht übermittelt. Wagenknecht, selbst kein Ausschussmitglied, dürfte ihn auch nur aus zweiter Hand gehört haben. Aus einem Spiegel-Artikel geht jedoch hervor, dass die Stellungnahme sich mit einer Einschätzung der Bundeswehr deckte. Und dort hieß es, dass es „keine Rücknahme von signifikanten zusätzlichen an die ukrainische Grenze verlegten Sicherheitskräfte“ gäbe. Stattdessen seien „wahrscheinlich noch weitere Kräfte auf dem Transit aus dem Osten Russlands in Richtung Ukraine.“ So seien „unverändert alle militärischen Voraussetzungen seitens Russlands vorhanden, jederzeit und nahezu ohne Vorwarnzeit militärische Aktivitäten gegen die Ukraine durchzuführen.“ Es fehle nur noch der „Befehl der politischen Führung.“

„Wagenknechts Schuldeingeständnis im ZDF dauerte allerdings gerade einmal zehn Sekunden, bis sie wieder ins altbekannte Muster zurückfiel.“

Nun gehören Fehleinschätzungen zum politischen Betrieb dazu und niemand lag je mit all seinen Prognosen richtig

Dass Wagenknechts Prognose sich als falsch herausstellte, kann man ihr nicht übelnehmen. Der Skandal besteht darin, dass sie ihre Einschätzung als Verteidigung vortrug, so als ob nur der Kriegsausbruch, nicht aber die Kriegsandrohung verwerflich wäre. Denn tatsächlich besteht zwischen beidem nur ein gradueller und kein grundsätzlicher Unterschied.

Zum einen kann sich niemand wünschen, dass solche Drohgebärden wieder fester Bestandteil internationaler Politik werden. Konflikte müssen auf diplomatische Weise ausgetragen werden. Zum anderen aber – und das ist wichtiger – kann eine Drohung nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn eine reelle Chance der Umsetzung besteht. Anderenfalls würde niemand Putin mehr ernst nehmen, wenn auch nach der 12. oder 13. Drohung keine Invasion stattfände. Man muss also bereits einen Krieg geführt haben (Tschetschenien/Georgien), um mit Krieg drohen zu können. Jede Kriegsandrohung kann tatsächlich zu einem Krieg führen. Denn was, wenn Putin nur geblufft hätte, die ukrainische Führung jedoch darauf reingefallen wäre und ihrerseits einen Präventivkrieg begonnen hätte? Und wenn beide Seiten wortwörtlich schwere Geschütze an der Grenze auffahren, kann auch ein einzelner Panzerkommandant, der schlicht zu blöd ist, eine Landkarte richtig zu lesen, rein versehentlich einen Krieg beginnen.

Wagenknecht relativiert

Wagenknechts Schuldeingeständnis im ZDF dauerte dann allerdings gerade einmal zehn Sekunden, bis sie wieder ins altbekannte Muster zurückfiel. Schuld sei vor allem die Nato-Osterweiterung und dass Washington nicht darauf „geachtet hätte, die roten Linien der Russen nicht zu überschreiten.“ Die ukrainische Regierung würde „sehr brutal rekrutieren.“ Natürlich setzt die Ukraine im Verteidigungskrieg auf Zwangsrekrutierungen – warum man aber diese und nicht etwa den russischen Angriffskrieg als „sehr brutal“ bezeichnet, bleibt Wagenknechts Geheimnis.

Im Jahresrückblick bei Markus Lanz wurde sie noch eine Spur deutlicher: „Ich verurteile diesen Krieg. Ich halte Politiker, die Kriege beginnen – und das gilt auch für Wladimir Putin – für Verbrecher.“ Zwar ist zu begrüßen, dass sie Putin als Verbrecher bezeichnet, aber für sie ist er eben nur „auch“ Verbrecher. Denn ebenso habe Wolodymyr Selenskyj „sehr fahrlässig“ gehandelt, als er die russischen Nuklearstreitkräfte mit Drohnen attackiert hatte: „Aber es ist auch ein Verbrechen, wenn man nicht alles dafür tut, was man tun könnte, um diesen Krieg zu beenden.“ Kriegsverbrechen und Notwehr stehen für Wagenknecht offenbar auf einer Stufe. Sie verteidigte dann auch, dass sie Selenskyjs Rede im Bundestag ferngeblieben war, denn dort sei keine offene Debatte möglich gewesen, stattdessen wären nur „standing ovations“ eingefordert worden.

Die in der Talkshow ebenfalls anwesende ZDF-Journalistin Katrin Eigendorf warnte, dass niemand unter dem Terrorregime Putins leben wolle – nicht einmal die Russen selbst. Doch Wagenknecht konterte selbstbewusst, dass sie dies ja von sich aus entschieden hätten. Richtig ist, dass tatsächlich eine Mehrheit der Russen hinter der Politik des Kreml steht, aber ebenso ist auch richtig, dass Morde an Dissidenten, massiver Wahlbetrug, kontrollierte Oppositionsparteien und eine gelenkte Medienlandschaft dazu ihren gehörigen Teil beigetragen haben.

Zu Beginn letzten Jahres hatte Wagenknecht sich im Bundestag zum Tod des Regimekritikers Alexej Nawalny geäußert, der in einem sibirischen Straflager umgekommen war. Sie meinte, „dass die genauen Umstände noch ungeklärt sind“, obgleich: „Die Verantwortung für den Tod Nawalnys tragen diejenigen, die ihn seiner Freiheit beraubt und die ihn unter unerträglichen Umständen inhaftiert haben. Sowohl die Inhaftierung als auch die Haftbedingungen waren schwere Menschenrechtsverletzungen. Wem Freiheit und Demokratie am Herzen liegen, der muss ein Regime verurteilen, das so mit seinen Kritikern umgeht.“

„Wagenknechts Pochen auf die Menschenrechte stellt nur ein Lippenbekenntnis dar.“

„Diejenigen“ kann man sagen, wenn sich tatsächlich kein Täter ermitteln lässt. Putins Name kam ihr aber nicht über die Lippen. Zudem wurde Nawalny nicht durch „ein“, sondern durch das russische Regime inhaftiert. Solche Unschärfen verraten, dass Wagenknechts Pochen auf die Menschenrechte eben nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Zudem kam sie auf Julian Assange zu sprechen, der in Großbritannien ein ähnliches Schicksal erleide. Zwar lässt sich über dessen Inhaftierung trefflich streiten – nicht jedoch darüber, dass er eben nicht in der Haft verstarb, sondern mittlerweile wieder ein freier Mann ist. Zudem wäre die Debatte um den Tod Nawalnys „missbraucht“ worden, um die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus zu legitimieren: „Wissen Sie wirklich nicht mehr, wie es zweimal ausgegangen ist, als größenwahnsinnige deutsche Politiker den Krieg nach Russland tragen wollten?“ Friedrich Merz also auf einer Stufe mit dem Kaiser und dem Führer.

Im vergangenen Jahr vermied Wagenknecht es, in der Talkshow „Hart aber fair“ von Vergewaltigungen zu sprechen, lieber verwendete sie das Wort „Übergriffe“: „Das ist doch Teil des Krieges, und das ist nicht nur in diesem Krieg so. Kriege sind immer mit Kriegsverbrechen verbunden.“ Natürlich stimmt die Aussage, dass Kriege auch von Vergewaltigungen begleitet werden, wenn man über Kriege allgemein spricht. Bemüht man diesen Umstand jedoch, wenn man sich auf einen spezifischen Konflikt fokussiert, handelt es sich um: Relativierung.

Ebenso wird Wagenknecht nicht müde, die Korruption in der Ukraine anzuprangern

Prinzipiell stimmt das auch (was aber natürlich keinen Angriffskrieg rechtfertigen würde). Die Ukraine steht laut dem Korruptionswahrnehmungsindex der NGO Transparency International an Stelle 104 von 180, Russland hingegen steht auf Platz 141 – gilt also als noch korrupter. Zudem verschlechtert sich die Situation in Russland, während sie sich in der Ukraine verbessert. Und Übrigens: Transparency International darf in der Ukraine arbeiten, in Russland jedoch nicht. Aber diesen Punkt spart Wagenknecht lieber aus.

Im Gespräch mit der F.A.Z. musste Wagenknecht nun zugeben, dass, „die russische Präsidentenwebseite nicht zu meiner täglichen Lektüre gehört“, da ihre Russischkenntnisse dafür unzureichend seien. Im Klartext, sie misstraut der deutschen Berichterstattung über Putin einfach aus einem Bauchgefühl heraus. Nun stimmt es, dass man den Mainstreammedien mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnen sollte, diese allerdings im Zweifelsfall auch begründen können muss. Ohne tiefer gehende Recherche kann man nicht einfach aus Trotz das Gegenteil der Berichterstattung als wahr annehmen.

„Bei Lanz zitierte Wagenknecht John F. Kennedy, der gewarnt hatte, dass man einer Nuklearmacht nie eine demütigende Niederlage beifügen dürfe. Die Geschichte bestätigt ihn nicht.“

Kürzlich empfing Wagenknecht in ihrer Gesprächsreihe „Sahra trifft“ den AfD-Gründer Bernd Lucke zum Interview. Dieser durfte darlegen, wie er sich einen möglichen Friedensschluss vorstellte. Die strittigen Gebiete im Donbass sollten eigenständige Staaten werden, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit achten, allerdings nur über eingeschränkte Souveränität verfügten. So sollten sie keine eigene Außen- und Verteidigungspolitik betreiben, sowie die Präsenz russischer Truppen akzeptieren. Wie unter diesen Bedingungen Demokratie und Rechtsstaat gewahrt bleiben sollen, konnte Lucke allerdings nicht erklären. Lucke ist skeptisch gegenüber Militärhilfen an die Ukraine, würde aber immerhin Flugabwehrsysteme liefern. Doch Wagenknecht meinte, dass diese die russischen Luftangriffe ohnehin nicht abwehren könnten. Auch habe das EU-Parlament sich in einer „blutrünstigen“ Resolution hinter die Ukraine gestellt. Solche Rhetorik verwendet Wagenknecht aber nur in Richtung des Verteidigers, nicht des Aggressors.

Über die Social-Media-Kanäle des BSW hieß es jüngst auch: „Regierung ignoriert Mehrheit: 72% Ukrainer wollen Verhandlungen statt Waffen!“ Angeblich würde Wagenknecht ja nur das vortragen, was die große Mehrheit der Ukrainer sich insgeheim wünsche, während die ukrainische Regierung quasi als Marionette Washingtons den Auftrag habe, Russland niederzukämpfen. Doch das stimmt so nicht. Laut der genannten Umfrage wollten 72 Prozent der Ukrainer militärische und diplomatische Unterstützung, also zusätzlich – nicht anstelle von. Und das ist kein Widerspruch. Gerade durch Erfolge auf dem Schlachtfeld könnte die Ukraine bessere Ausgangsbedingungen am Verhandlungstisch haben.
Wagenknecht und Nahost

Bei Lanz zitierte Wagenknecht John F. Kennedy, der gewarnt hatte, dass man einer Nuklearmacht nie eine demütigende Niederlage beifügen dürfe. Die Geschichte bestätigt ihn nicht. Die USA verloren den Krieg in Vietnam, die Sowjets in Afghanistan. Dennoch drückte niemand den roten Knopf. Und besonders konsequent ist Wagenknecht nicht, denn dann müsste sie sich eigentlich auch mit Kritik an der Nuklearmacht Israel zurückhalten.

Einerseits will sie das israelische Existenzrecht und Recht auf Selbstverteidigung anerkennen, sie spricht sich jedoch dennoch gegen die Militärschläge gegen die Hamas aus: „Aber der Vernichtungsfeldzug im Gazastreifen ist schon lange keine Selbstverteidigung mehr.“ Mit einem Vernichtungskrieg wird meist auf die brutale Besatzungspolitik der Wehrmacht in Osteuropa abgezielt. Das dürfte Wagenknecht auch wissen. Israel auf eine Stufe mit dem Nationalsozialismus zu stellen, war in der DDR eine beliebte Propagandataktik. In den Stellungnahmen des Politbüros und der staatlichen Medien fielen oft Begriffe wie „israelische Wehrmacht“, „Blitzkrieg“ „Protektorat Sinai“, „Generalgouvernement Jordanien“ und „Endlösung der Palästinafrage“.

Die Ausschaltung des Hamas-Anführers Ismail Hanija bezeichnete Wagenknecht als „Mordanschlag“, der die Kriegsgefahr erhöhe – als ob der Krieg da noch nicht in vollem Gange gewesen wäre. Zudem war Hanija als Terrorist eben ein legitimes Ziel einer Geheimdienstoperation.

„Auch im Nahostkonflikt zeigt sich Wagenknechts Sympathie für Putin.“

Und auch im Nahostkonflikt zeigt sich ihre Sympathie für Putin erneut: „Man stelle sich vor, Kiew würde so aussehen wie Gaza. Was für einen Aufschrei gäbe es in der deutschen Öffentlichkeit – zu Recht.“ Zwar stimmt, dass Kiew weniger starke Bombardierungen erlebte als Gaza, doch liegt das nicht an humanitären Erwägungen Putins, sondern daran, dass die Ukraine ihre militärischen Einrichtungen eben nicht in Wohngebieten platziert, um sie mit menschlichen Schutzschilden abzusichern.

Bei ihren genannten Ausführungen im Bundestag kann sich Wagenknecht oft genug auch auf den Beifall der AfD-Fraktion verlassen. Zwar erscheint eine Zusammenarbeit beider Parteien nicht realistisch, doch jüngst meldete sich der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland zu Wort:

„Wagenknecht ist uns außenpolitisch näher als Merz – das sollten wir im Wahlkampf und bei künftigen Abstimmungen nicht vergessen.“ In Sachsen wollte die örtliche BSW-Landesvorsitzende einem AfD-Antrag über die Stationierung amerikanischer Raketen zustimmen und ein BSW-Landtagsabgeordneter trat auf einer sogenannten „Friedensdemo“ mit den rechtsextremen Freien Sachsen auf.

In den jüngsten Koalitionsverhandlungen in drei ostdeutschen Bundesländern pochte das BSW immer wieder auf Klauseln, die in eine russlandfreundliche Richtung deuteten. Das ist ungewöhnlich, denn eine Landesregierung betreibt keine Außenpolitik und kann letztlich nur in Detailfragen über Stützpunkte der Bundeswehr bzw. verbündeter Staaten auf ihrem Gebiet mitreden. Dennoch warnte der Politologe Thomas Jäger, dass es über das Stimmrecht im Bundesrat eben doch einen Hebel auf die Außenpolitik gäbe und dass nie ganz ausgeschlossen werden könne, dass sensible Daten ihren Weg von BSW-Ministerien in den Kreml fänden. Jüngst kam es zur Bewährungsprobe: Das Land Brandenburg enthielt sich bei einer Abstimmung im Bundesrat, weil sich die beiden Koalitionspartner SPD und BSW nicht auf eine gemeinsame Position zu einer Militärkooperation Deutschlands mit Litauen einigen konnten.

Mittlerweile kommen auf Wagenknecht aber ganz andere Probleme zu. Ihren Höchststand in den Umfragen von knapp neun Prozent hat ihre Partei mittlerweile hinter sich gelassen und steuert schnurstracks auf die Fünf-Prozent-Hürde zu. Der Spuk könnte also bald schon vorbei sein.

Dieser Text von Lukas Mihr erschien erstmals am 7. Februar 2025 auf dem Portal www.novo-argumente.com.

Bildquelle:

  • Sahra_Wagenknecht_2: pixabay

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