von MARK ZELLER
BREMEN – Vor 40 Jahren sorgte ein Foul in der Bundesliga für weltweites Aufsehen: Ein aufgeschlitzter Oberschenkel markierte den Höhepunkt einer Entwicklung, die den Fußball fast zum bloßen Kampfsport werden ließ – und läutete ein Umdenken ein.
An meine erste persönliche Begegnung mit Ewald Lienen erinnere ich mich nur zu gut, war sie doch ziemlich ungewöhnlich: Als er sich im Sommer 1987 als umjubelter Neuzugang beim MSV Duisburg präsentierte, war das Erste, was er uns Kindern zeigen musste, nicht etwa seine Ballfertigkeit, sondern eine Narbe: 25 Zentimeter lang durchsetzt sie seinen rechten Oberschenkel. Sichtbare Spur eines Foulspiels, das bis heute die Gemüter bewegt.
Rückblende: Freitagabend, 14. August 1981, Weserstadion, volle Hütte. Zum zweiten Spieltag der neuen Saison und gleichzeitig zum ersten Heimspiel nach dem Wiederaufstieg empfängt Bundesliga-Gründungsmitglied Werder Bremen die Arminia aus Bielefeld. Auf den Rängen knistert die Stimmung, auf dem Platz geht es hoch her. Und es ist die 18. Minute, die die Bundesliga verändert. Kein Tor, keine Parade, kein besonderer Schuss ist es, der sich einbrennt ins kollektive Fußball-Gedächtnis, sondern ein zunächst harmlos anmutender Zweikampf im Mittelfeld – und seine Folgen: Der trickreiche Bielefelder Außenstürmer Lienen bekommt auf halb links den Ball, als ihm Werder-Verteidiger Norbert Siegmann seitlich in die Parade fährt.
Auf den Fernsehbildern wirkt die Szene auf den ersten Blick wie ein Allerweltsfoul – bis der Kamera-Zoom dem entsetzten Blick Lienens auf seinen Oberschenkel folgt. Und was dort zu sehen ist, versetzt nicht nur den Spieler in Schock, sondern ein Millionenpublikum: Lienens Oberschenkel ist weit aufgerissen. So tief, dass es kaum blutet. Stattdessen ist die weiße Muskelhülle freigelegt. Der Anblick wirft unwillkürlich die Frage auf, wie man mit einem einzigen Kontakt ein menschliches Bein derart aufschlitzen kann. Was selbst mit einem Seziermesser und Vorsatz kaum so hinzubekommen sein dürfte, Siegmann „schafft“ es mit einem Fußballschuh. Sein späterer Erklärungsansatz: Abgenutzte und dadurch aufgeraute Stollen, die auf Muskelspannung treffen.
Klage gegen Spieler und Trainer
Das Ergebnis jedenfalls zeigt in nie dagewesener Schonungslosigkeit die brutale Seite des Leistungssports. Wer diese klaffende Wunde sieht, erwartet reflexartig eine lange Pause für Lienen, wenn nicht gar dessen vorzeitiges Karriereende. Dass er aber – im Gegenteil – nur 17 Tage später wieder auf dem Platz stehen, bis in sein 39. Lebensjahr hinein in der Bundesliga spielen und zu einem ihrer dienstältesten Profis werden wird, ahnt in dem Moment niemand. Stattdessen bricht eine nie dagewesene Aufregung los: Lienen, der noch auf dem Platz im Affekt Werder-Trainer Otto Rehhagel angegangen war, weil der seinen Spieler zum vorsätzlich überharten Einsteigen aufgefordert haben soll, strebt Zivilklage gegen Rehhagel und gegen Siegmann an. Wochenlang wird öffentlich diskutiert, monatelang prozessiert. Das Sportgericht des DFB jedoch, auf das die Bremer Generalstaatsanwaltschaft verwiesen hatte, spricht Rehhagel mangels Beweisen frei und stellt das Verfahren gegen Siegmann ein.
Doch damit ist das Thema längt noch nicht durch: Nach Morddrohungen gegen ihn bekommt der Werder-Coach beim Rückspiel in Bielefeld Personenschutz und muss mit einer kugelsicheren Weste auf der Bank sitzen. Und die drastischen Maßnahmen erweisen sich nicht einmal als überzogen: Bei den Einlasskontrollen zum Spiel zieht die Polizei unter anderem eine Pistole aus dem Verkehr. Siegmann hatten die Bremer gleich ganz zu Hause gelassen.
Harte Spielweise als strukturelles Problem
Lienen wiederum stellt das Foul in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang. Noch im Krankenbett hatte er glaubhaft vermittelt: „Mir geht es in erster Linie darum, dass die Knochen der Bundesligaspieler geschützt werden, dass unsere Gesundheit geschützt wird.“ Mit seinem Wunsch einen „Präzedenzfall zu schaffen“, prangert er bezüglich des Abwehrverhaltens in der Bundesliga ein strukturelles Problem an. Und er hat Recht damit. Die Chronik jener Jahre weist reichlich Tritte aus, die in ihrer Langzeitwirkung noch weitaus gravierende Folgen haben: Steiner gegen Flohe (Schien- und Wadenbeinbruch / Karriereende), Matthäus gegen Grabowski (Bänderverletzung / Karriereende) oder Günther gegen Borg (Schien- und Wadenbeinbruch) sind nur die prominentesten Beispiele einer Zeit, in der rücksichtslos brutales Einsteigen als „gesunde Härte“ abgetan wird, jede Mannschaft ihre „Zerstörer“ hat und wo das ungeschriebene Gesetz gilt: „Das erste Foul ist frei – egal, wie hart“. Und so passt in diese Zeit, dass selbst Siegmann für seinen folgenschweren Tritt nur die gelbe Karte sieht, und sich seine Mannschaftskollegen darüber sogar noch beschweren.
Lienens Verletzung selbst war übrigens schnell versorgt: Mit 23 Stichen zugenäht und darauf geachtet, dass sie sich nicht entzündet. Die seelischen Folgen hingegen blieben über Jahrzehnte – interessanterweise vor allem beim „Täter“. Norbert Siegmann, zum Ober-Treter abgestempelt, obwohl er in über 300 Profi-Spielen nie einen Platzverweis hatte hinnehmen müssen, fand erst mehr als 30 Jahre später seinen Frieden mit jenem schicksalhaften Zweikampf – durch ein Treffen mit Lienen, von dem er sagt: „Das war Heilung.“
Und was wurde aus dem „Präzedenzfall“? Auch, wenn Ewald Lienen ihn seinerzeit nicht vor Gericht erreichen konnte, lässt sich heute sagen: Geschaffen hat er ihn trotzdem – alleine durch die Kraft der Bilder seines Oberschenkels. ¬
Bildquelle:
- Ewald_Lienen: dpa