von MARK ZELLER
Jahrhundertfigur, Kaiser, Lichtgestalt – für Franz Beckenbauer mussten sogar die Superlative neu vermessen werden. Zu seinem 75. Geburtstag wirkt Deutschlands wohl bedeutendste Sportgröße angeschlagen und umstritten wie nie. Dabei könnten wir vieles von ihm heute gut gebrauchen – besonders der Deutsche Fußball.
Es gibt Ereignisse, die eine komplette Geschichte zu erzählen scheinen. Und wenn so ein Ereignis auch noch „live“ gezeigt wird, dann brennt es sich ins kollektive Gedächtnis ein, so wie am Abend des 7. Mai 1994: Das ZDF-Sportstudio überträgt die Meisterfeier des FC Bayern, wo die frischgebackenen Titelgewinner in erkennbar fortgeschrittener Bierlaune ihren Trainer Beckenbauer zu einem besonderen Schuss auf die Torwand drängen. Der stellt sich in Position, hält das Hosenbein seines Anzuges hoch und versenkt den Ball rechts unten – von einem vollen Weizenbier-Glas aus! Jeder, der das sieht, ist sich spätestens jetzt sicher: „Dem gelingt alles.“
Zumindest bezogen auf den Fußball traf das auf Franz Beckenbauer zu. Was allerdings längst nicht bedeutet, dass ihm der Erfolg einfach zufiel. Vier Monate nach Kriegsende geboren, wuchs er in entbehrungsreichen Zeiten im Münchner Arbeiterstadtteil Giesing auf, wo der direkt gegenüber seines Elternhauses liegende Fußballplatz des SC München 1906 schnell sein Hauptbetätigungsfeld wurde. Früh zeigte sich sowohl ausgeprägtes Talent, als auch ebensolcher Ehrgeiz. Und so wechselte er bereits im Alter von 13 Jahren zum FC Bayern, jenem Club, dem er bis heute verbunden ist, und an dessen Aufstieg zu einem der erfolgreichsten Fußball-Clubs der Welt er in unterschiedlichsten Funktionen maßgeblich beteiligt war.
Schon als Spieler war der Erfolg sein ständiger Begleiter. Nach jeweils vier Deutschen Meisterschaften und Pokalsiegen sowie vier Europacup-Erfolgen (dreimal Landesmeister, einmal Pokalsieger) und einem Weltpokal-Sieg mit den Bayern, zog es ihn 1977 in die USA, wo er mit New York Cosmos dreimal US-Meister wurde, ehe er nochmal in die Bundesliga zurückkehrte, und mit dem Hamburger SV – wie kann es anders sein – ebenfalls den Titel holte.
Der Nationalelf hatte er da schon über Jahre hinweg seinen besonderen Stempel aufgedrückt. 1966 bei der WM in England, als Shooting-Star in einer Deutschen Mannschaft, die erst im Endspiel durch das umstrittene Wembley-Tour gestoppt wurde, 1970 in Mexiko, als er trotz Schulterverletzung und daraus resultierendem Arm in der Schlinge im „Jahrhundertspiel“ gegen Italien zwar durchhielt, aber knapp scheiterte, 1972, wo er die deutsche Elf als Kapitän bei der EM ebenso zum Titel führte, wie 1974 bei der Heim-WM.
Führungsspieler – Dirigent – Kaiser
Mehr noch, als seine messbaren Erfolge und Titel, war es jedoch seine Gesamterscheinung, die seine Ausnahmestellung begründete. Der „Gentelman am Ball“, wie er auch bezeichnet wurde, schien selbst in hitzigen, hart umkämpften Spielen über dem Geschehen zu schweben und bewegte sich auch so. Seine ausgefeilte Technik und Übersicht gepaart mit seiner stets aufrechten Körperhaltung und fast elegant wirkenden Bewegungsabläufen zementierten seinen Charakter als „Dirigent“ und Führungsspieler. Beckenbauer wurde „Kaiser Franz“.
Seine Leichtigkeit war fast schon revolutionär im seinerzeit knochenharten europäischen Fußball. Er aber brachte sie auch neben dem Platz an den Tag. So wurde er – auch und gerade für die Medien – zum beliebten Stichwortgeber. Er trug sein Herz auf der Zunge und prägte dabei manch‘ bleibende Fußballweisheit. Zwar wurde er von der Fachpresse gerne mal bekrittelt ob seiner vermeintlich rasch wechselnden Meinungen und häufiger gebrauchten Pauschalaussagen. Vom Fußballvolk (und nicht nur dem) aber wurde er geliebt dafür, Dinge auf den Punkt zu bringen, und gegebenenfalls mit Humor zu entkrampfen. Gleichzeitig konnte Beckenbauer auch schonungslos kritisieren und klare Ansagen machen. In jedem Fall hatte er jenes fußballerische Gespür, das ihm Improvisation erlaubte, Überraschendes, Wundervolles, Zeug für unvergessliche Momente. Kurzum: Das, was man im „modernen Fußball“, besonders im durchgestylten Marketing-Produkt namens „die Mannschaft“, allenthalben vermisst.
Teamchef und Wegbereiter
Mit seinen Fähigkeiten wurde er Mitte der Achtziger-Jahre zum Rettungsanker des leck geschlagenen deutschen Fußball-Schiffes – und langfristig zum Wegbereiter für erfolgreichere Zeiten. 1984 übernahm er die Verantwortung für die Nationalelf, die nach dem Vorrunden-Aus bei der EM 1984, als Resultat eines schon zuvor eingeläuteten spielerischen Niedergangs, in ihrer bis dato größten Krise steckte. Als Trainer ohne Lizenz – fortan genannt „Teamchef“ – lenkte Beckenbauer von nun an die Geschicke der deutschen Auswahl. Und seine Aura wirkte befreiend auf die Spieler. Mit seiner Ausstrahlung und seinem Auftreten, zog er die Medienmeute auf sich – weg von seiner Mannschaft. Auch und gerade während der Spiele, wenn er lässig neben der Bank stand, aufrecht und die Hände in den Jackentaschen.
Diese kaiserliche Entspannungspolitik ging schnell in sein Team über. Mit nahezu dem gleichen Spielerpersonal, das zwei Jahre zuvor krachend gescheitert war, wurde er 1986 in Mexiko Vize-Weltmeister, um es vier Jahre später in Italien zum Titelgewinn zu führen. Im Zenit seines Trainer-Schaffens zeigte er aber auch, dass es mit Leichtigkeit alleine nicht getan ist. Zwar atmete das ganze Team eine erfrischende Lockerheit, ihr Chef allerdings legte den Grundstein dafür mit harter und akribischer Arbeit und schonte sich dabei selbst nicht, wie sein offensichtliches Untergewicht erkennen ließ. Und wenn es nicht nach seiner Zufriedenheit funktionierte, gab es für die Mannschaft ein reinigendes „Gewitter“.
Nachdem Titelgewinn übergab er seinem Nachfolger Berti Vogts eine intakte Mannschaft und war in den Folgejahren eher als „Gelegenheitsarbeiter“ unterwegs, wie er es einmal auf die Frage nach seiner genauen Berufsbezeichnung nannte. Als solcher coachte er Olympique Marseille zum französischen Meister, den FC Bayern zum Deutschen Titel und zum UEFA-Pokal-Gewinn. Als 15 Jahre lang amtierender Präsident der Münchener baute er die führende Position des Rekordmeisters im deutschen Fußball aus. Zudem war er als Funktionär von DFB und FIFA ebenso omnipräsent, wie als vielfacher Werbeträger, Geschäftsmann und Kolumnist und TV-Experte.
„Nebenbei“ wirkte er in einer Rolle, die er persönlich, trotz aller Titel, immer als sein wichtigstes Werk für den Deutschen Fußball erachtet hat: Als Architekt des „Sommermärchens“, der Heim-WM 2006, bei der er sowohl als Vorsitzender des Bewerbungskomitees, als auch als Leiter des Organisationskomitees erfolgreich wirkte. Dass ausgerechnet dieser „Job“ ihn wegen Korruptionsvorwürfen bei der Vergabe im Nachhinein belastete, setzte ihm schwer zu.
„Mitgenommen“ von Problemen
Dazu gesellten sich private Probleme ungekannten Ausmaßes: Der Tod seines Sohnes Stephan und mehrere Herz-Operationen zeichneten ihn. „Was da alles war in den letzten Jahren, das hat mich schon sehr mitgenommen“, verriet Beckenbauer gegenüber BILD. Und wer aktuelle Aufnahmen von ihm sieht, der ahnt: Die kaiserliche Leichtigkeit ist verschwunden.
Dass die öffentliche Gunst ihn hat fallen lassen, mag mehrere Ursachen haben: Vielleicht ist es für manche eine späte Genugtuung gegenüber einem, dem lange Zeit alles verziehen zu werden schien. Vielleicht ist es schlicht so, dass im durchdigitalisierten Zeitalter ein Held aus der Zeit der Röhrenfernseher nicht mehr zählt. Vielleicht muss man bei manchem gar den Eindruck haben, mit die Kritik an der WM-Vergabe nutzen sie eine willkommene Möglichkeit, das „Sommermärchen“ im Nachhinein zu diskreditieren, weil es in der Weltöffentlichkeit ein dermaßen positives Deutschland-Bild gezeichnet hat, wie es nicht stehen bleiben darf.
Doch heute geht es nicht um Medienrummel. Vielleicht braucht Franz Beckenbauer mehr denn je das, was er zeitlebens andern gegenüber vorgelebt hat: Menschen, die ihn nicht vergessen. Einer davon ist sein langjähriger Weggefährte Berti Vogts, der „t-online.de“ gegenüber betont: „Was Franz für den DFB, für Bayern München und den Fußball überhaupt gemacht hat – das ist sensationell. Genau wie der Mensch Franz Beckenbauer. Und daran sollte man sich in Deutschland erinnern an seinem 75. Geburtstag.“
In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch!
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