Die letzten Tabus fallen: Leopoldina fordert Freigabe der Embryonenforschung in Deutschland

ARCHIV - Eine Mikroplatte mit Embryonen, die mit Cas9-Protein und PCSK9 sgRNA injiziert wurden, ist in einem Labor in Shenzhen in der südchinesischen Provinz Guangdong zu sehen. Foto: Mark Schiefelbein/AP/dpa

HALLE/CHICAGO – Das Verbot der Forschung an frühen Embryonen außerhalb des menschlichen Körpers sollte in Deutschland aus Sicht der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina fallen.

Im Einklang mit internationalen Standards sollten Wissenschaftler hochrangige Forschungsziele verfolgen können, heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten Stellungnahme der Leopoldina und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften.

Ebenfalls am Mittwoch sprach sich die Internationale Gesellschaft für Stammzellforschung (ISSCR) dafür aus, aus menschlichen Stammzellen hergestellte Embryonen künftig länger als die bisher maximal gängigen 14 Tage im Labor züchten zu dürfen. Demnach sollen Forscher Embryonenmodelle so lange im Labor kultivieren dürfen, wie es dem jeweiligen Forschungszweck dient – allerdings nach individueller Prüfung.

In der letzten Version der internationalen Leitlinie von 2016 galt das Überschreiten der 14-Tage-Regel als «unzulässige Forschungsaktivität» («prohibited activities»). Seitdem habe die Forschung große Fortschritte erzielt – sowohl bei der Kultivierung menschlicher Embryonen als auch etwa bei der Schaffung von Embryonen aus Stammzellen, begründet die elfköpfige Arbeitsgruppe die Neuauflage der Leitlinie im Fachblatt «Stem Cell Reports».

Die Autoren kommen aus den USA, Kanada, Großbritannien, Österreich, Japan und China. «Das Komitee erkennt zwar an, dass die Kultivierung eines menschlichen Embryos über 14 Tage hinaus in vielen Rechtssystemen durch Gesetze oder Regeln untersagt ist, glaubt aber, dass in diesem Bereich ein pauschales Verbot wichtige Forschungsausrichtungen behindern könnte», schreibt die Gruppe.

Jedes Forschungsprojekt sollte individuell nach wissenschaftlichen und ethischen Gesichtspunkten begutachtet und bewertet werden. Dabei geht es insbesondere um den Grad der Integration eines Embryonenmodells – also ob es alle zur weiteren Reifung erforderlichen Merkmale herausbildet oder nicht. Demnach soll etwa der Transfer eines Embryos in die Gebärmutter eines Menschen oder Tieres weiterhin verboten bleiben.

Als Reaktion auf die neue Leitlinie sagte Thomas Zwaka von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York: «Zellkulturmodelle jenseits der 14-Tage-Regelung sind essenziell für unser Verständnis der menschlichen Entwicklung, da einige der wichtigsten Entwicklungsschritte erst nach dieser Periode stattfinden. Außerdem wird immer klarer, dass die Grundlage vieler ernster Entwicklungsstörungen mit den erweiterten Modellen erfasst werden kann.» Bei Embryonenmodellen handele es sich nicht um «echtes menschliches Leben». Neue Richtlinien seien hinfällig, da viele Forscher die Grenzen des Möglichen seit Jahren aggressiv erweiterten.

Dass die Leopoldina-Stellungnahme am gleichen Tag veröffentlicht wurde wie die neue ISSCR-Leitlinie, ist wohl kein Zufall. Das 1990 verabschiedete Embryonenschutzgesetz (ESchG) erlaube zwar die Erzeugung menschlicher Embryonen in vitro zum Zweck der Fortpflanzung, heißt es in der Stellungnahme. Es verbiete aber jegliche Forschung an ihnen. In Ländern wie etwa Israel, Dänemark, Schweden, Großbritannien, den USA und Japan dagegen sei die Forschung an frühen menschlichen Embryonen, die nicht mehr für die Fortpflanzung benötigt werden, in engen Grenzen erlaubt.

Überzählige Embryonen, die im Rahmen von Kinderwunschbehandlungen entstanden sind, aber nicht mehr benötigt würden, sollten für die Wissenschaft genutzt werden dürfen. Ein eigens geschaffenes Gremium soll die jeweiligen Forschungsprojekte und ihre Ziele überprüfen.

Die Stellungnahme betont, nach internationaler wissenschaftlicher Auffassung gebe es eine Reihe wichtiger Fragen, die wissenschaftlich nur mithilfe der Embryonenforschung bearbeitet werden können. Dazu gehöre etwa die Behandlung von Volkskrankheiten wie Diabetes, Arthrose, Herzinfarkt oder Schlaganfall mithilfe von Stammzelllinien. Zudem gehe es etwa um die die Klärung der frühen Entwicklungsbiologie des Menschen, die Verbesserung der Fortpflanzungsmedizin oder eine bessere Entwicklung von Embryonen und Föten in der Schwangerschaft.

Bislang könnten deutsche Wissenschaftler zu dieser Forschung wenig beitragen, heißt es in der Stellungnahme weiter. «Dreißig Jahre nach Inkrafttreten des ESchG ist es nach Auffassung der Akademien an der Zeit, den rechtlich zulässigen und ethisch vertretbaren Umgang mit frühen menschlichen Embryonen neu zu bewerten.»

Die Entscheidung darüber, ob überzählige Embryonen für die Forschung zur Verfügung gestellt werden, sollte aus Sicht der Wissenschaftsakademien bei dem Paar liegen, von dem sie stammen. Wenn die Familienplanung dieser Paare etwa abgeschlossen ist, könnten die übrigen Embryonen bislang nur verworfen oder für andere Paare gespendet werden.

Den Angaben zufolge sind in Deutschland zwischen 1997 und 2018 mehr als 319 000 Kinder nach einer In-vitro-Fertilisation (IVF) geboren worden. Bei dem Verfahren werden der Frau nach einer Hormongabe Eizellen entnommen und mit dem Samen des Mannes zusammengebracht. Zum Teil entstehen mehr Embryonen als der Frau übertragen werden.

«Die Forschung an frühen Embryonen in vitro, also außerhalb des menschlichen Körpers, die für Fortpflanzungszwecke erzeugt wurden, aber dafür keine Verwendung mehr finden (…), sollte im Einklang mit internationalen Standards erlaubt werden», empfiehlt die Stellungnahme. «Die Erlaubnis zur Forschung sollte dabei
ausschließlich für hochrangige Forschungsziele gelten, die dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung und der Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren dienen.»

Eine Bundesbehörde könnte demnach zusammen mit einer Ethikkommission über die Zulässigkeit der Vorhaben entscheiden. Die Embryonenforschung sorgt seit Jahrzehnten für intensive Debatten. Dabei spielen Forschungsinteressen ebenso eine Rolle wie ethische und rechtliche Überlegungen.

Bildquelle:

  • Embryonen: dpa

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