Liebe Leserinnen und Leser,
„…die kleine Kneipe in unserer Straße, da wo das Leben noch lebenswert ist…“
Die meisten von Ihnen kennen das Lied sicher noch. Und obwohl man es seit 30 Jahren nicht mehr im Radio gehört hat, kann man sofort mitsingen, wenn irgendwo die Melodie gespielt wird.
„…dort, in der Kneipe in unserer Straße – da fragt Dich keiner, was Du hast oder bist…“
Es gibt so Lieder, die wärmen das Herz, oder?
Dieses Lied von Peter Alexander ebenso wie „Griechischer Wein“ von Udo Jürgens. Lieder, die nie vergehen.
Die aufmerksamen Leser hier haben bemerkt, dass ich seit Wochen fast durchgehend in Berlin bin. Und vorhin war ich zum Essen in meinem Stammlokal hier seit 32 Jahren. In Wilmersdorf. Bei Andreas, meinem Stammwirt in all dieser Zeit. Er hat einen Migrationshintergrund, aber wen interessiert das bei solchen wunderbaren Menschen?
Als ich 1988 zum ersten Mal nach Berlin zog, dauerte es drei Jahre, bis mich ein damaliger Freund in diesen Laden schleppte. Ich habe jahrelang immer an einen von zwei langen Tischen gesessen, oft in einer großen Runde mit meinen besten Freunden. Einmal gab es in Andreas‘ Heimatland einen Wahlsieg zu feiern. Nach 50 Jahren wurden die Sozialisten in seiner Heimat abgewählt. Das Besäufnis meines Lebens, wir haben bis 6 Uhr morgens Sirtaki getanzt, Porzellanteller auf dem Fußboden zerdeppert und diesen hochprozentigen Selbstgebrannten vernichtet, den er aus 5-Liter-Plastikkanistern ausschenkte.
Als ich Berlin 1995 für lange Jahre verließ aus beruflichen Gründen, habe ich immer mal auf Facebook geschaut, ob es das Restaurant und Andreas noch gibt. Und als ich irgendwann vor 15 Jahren in Berlin war und ein wenig nicht ausgefüllte Zeit hatte, setzte ich mich einfach ins Taxi und ließ mich hinfahren. Es war Sommer, blauer Himmel, warm.
Andreas saß mit Gästen an einem Tisch vor seinem Restaurant. Und als ich aus dem Taxi stieg und er mich sah nach 15 Jahren, sprang er auf, umarmte mich herzlich und fragte: „Willst Du ein‘ Ouzo?“ Klar wollte ich. Wir erzählten uns noch im Stehen an der Theke von Frauen und unseren Krankheiten und es war, als hätte es die Jahre dazwischen nicht gegeben.
Man braucht solche Fixpunkte im Leben, so ein Wohnzimmer außerhalb des eigenen Zuhauses, oder?
Sie wissen, dass ich die Berliner Politik verachte, aber die Stadt und die Ureinwohner, die Schultheiss-Berliner, liebe ich. Ein wichtiger Mosaikstein dafür sind dieses Lokal und sein Wirt.
Hier haben wir ausgelassen gefeiert, gesungen, geknutscht. Mit zwei meiner drei großen Lieben saß ich hier. Seit ich es wiederentdeckt habe komme ich nie zu Interviews oder Geschäftsgesprächen zu Andreas. Sondern nur mit Menschen, die ich wirklich mag, und mit denen ich ganz offenen über alles Mögliche quatschen kann. Und Ouzo trinken.
Andreas und ich sind ungefähr gleich alt. Ich war nie bei ihm zu Hause eingeladen und er auch nicht bei mir/uns. Aber er ist ein Freund, einer, dem ich unbedingt vertraue – egal, um was es geht. Er ist mein Gastwirt und bewirtet mich in meinem zweiten Wohnzimmer wie einen echten Freund. Ich bin froh, dass es diesen Mann und diesen Zufluchtsort gibt inmitten des Wahnsinns unserer Zeit.
Mit herzlichen Grüßen,
Ihr Klaus Kelle