von ESTHER VON KROSIGK
BERLIN – Der 20. Juli ist in der deutschen Geschichte vor allem mit dem Jahr 1944 verbunden. An jenem Tag – knapp zehn Monate vor Kriegsende – verübte eine Gruppe hochrangiger Offiziere unter der Führung von Claus Schenk Graf von Stauffenberg das letzte dokumentierte Attentat auf Adolf Hitler. Der Versuch, den Diktator zu töten, scheiterte und die am Attentat Beteiligten – darunter etliche Generäle und hochrangige Staatsbeamte – wurden hingerichtet oder in den Tod getrieben. Ihre Familien kamen vielfach in Sippenhaft: Die Witwen der Verschwörer wurden inhaftiert und ihre Kinder, manche noch im Kleinkindalter, wurden von den Müttern und Verwandten getrennt und von der Gestapo verschleppt.
Der Widerstand gegen Hitler hat die beteiligten Familien über Jahrzehnte geprägt
Die kollektive Rache des Hitler-Regimes hat diese Familien über Jahrzehnte traumatisiert und geprägt – bis in die nächste Generation hinein, sogar bis zum heutigen Tag.
Felicitas von Aretin ist die Enkelin von zwei Widerstandskämpfern: Ihr Großvater mütterlicherseits, Henning von Tresckow, war neben Stauffenberg die zentrale Figur des militärischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Der Großvater auf väterlicher Seite, Erwein von Aretin, arbeitete Anfang der 1930er-Jahre als Redakteur für Innenpolitik bei den „Münchner Neuesten Nachrichten“ und war ein monarchisch orientierter Gegner des Nazi-Regimes. Aretin war einer der ersten KZ-Häftlinge in Dachau und musste nach seiner 14-monatigen Inhaftierung außerhalb Bayerns und getrennt von seiner Familie leben.
„Das Schicksal meiner Großväter war stets eines der beherrschenden Themen am Familientisch,“ erzählt die Publizistin, die heute in München lebt. Ihr Vater, ein bekannter Historiker, hat Stauffenberg als junger Mann noch kennengelernt und über diese Epoche geforscht. Nach dem Krieg haben Aretins Eltern durch eine sich ähnelnde Lebensgeschichte zueinander gefunden.
Über die Schrecknisse in der Vergangenheit wurde nicht gesprochen
Doch über persönliche Erlebnisse hat die Mutter, die als 13-jährige in ein NS-Kinderheim nach Bad Sachsa im Südharz kam, auch im engsten Familienkreis kaum gesprochen. „Da ist so eine Schweigekapsel weitergegeben worden“, sagt von Aretin und spielt auf die Großmutter an, die zwar an der Biografie über ihren Mann (Bodo Scheurig: Henning von Tresckow. Ein Preuße gegen Hitler) mitgearbeitet habe, aber über die Schrecknisse der Vergangenheit niemals mehr sprechen konnte. Ein Tag nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler hat sich ihr Mann mit einer Granate das Leben genommen. Sein Bruder schnitt sich die Pulsadern auf. Der Schwager und seine Tochter vergifteten sich im April 1945. Im selben Jahr fiel Frau von Tresckows ältester Sohn, der an die Front geschickt worden war. Der Besitz von Aretins Urgroßvater brannte nieder und die Geschichte mehrerer Generationen war ausgelöscht.
Als Kind spielte Felicitas von Aretin mit ihren Kuscheltieren „Flucht aus dem KZ“, als erwachsene Frau schrieb sie selbst ein Buch über „Die Enkel des 20. Juli 1944“. Ihr Fazit aus über 50 Interviews, die sie mit Nachkommen der Widerstandskämpfer geführt hat: Viele sind in „aufklärerische Berufe“ gegangen, sie wurden Journalisten, Psychotherapeuten oder Juristen.
Nach wie vor empfindet sie es als ungerecht, dass die Witwen und Kinder der hingerichteten Widerstandskämpfer noch lange nach Ende des Krieges um Anerkennung und finanzielle Entschädigung für die Haft und für Waisenrenten kämpfen mussten. „Die Hälfte der Familie meiner Mutter ist umgekommen. Um überleben zu können, hat meine Großmutter Zimmer an Studenten vermietet, meine väterliche Familie hatte überhaupt kein Geld,“ sagt Felicitas von Aretin.
Erst ab Mitte der 1950er-Jahren setzte eine Neubewertung des Widerstands ein
In der neu gegründeten Bundesrepublik durchlief die Erinnerung an den 20. Juli verschiedene Phasen. Zunächst blieb die nationalsozialistische Propaganda bestehen und stellte die Gruppe weiterhin als ehrgeizige Verräter dar, die einen Eidbruch begangen und das Vaterland verraten hätten. Erst die Rede von Theodor Heuss an der Freien Universität Berlin im Juli 1954 brachte eine Wende, der Bundespräsident plädierte für eine Neubewertung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und erhielt dafür im In- und Ausland großen Zuspruch. Aus den vermeintlichen Verrätern wurden nach und nach Helden – doch bis in die Gegenwart gibt es kritische Stimmen. Felicitas von Aretin meint: „Ich finde es nicht verwunderlich, dass es mit der Anerkennung so lange gedauert hat, ich finde vielmehr verwunderlich, dass es noch Menschen gibt, die nach wie vor Schwierigkeiten mit dem Datum haben.“ Alljährlich findet am 20. Juli an historischen Orten des Umsturzversuchs eine Feierstunde der Bundesregierung mit Totengedenken und Kranzniederlegung statt. Wenn es nach von Aretin ginge, sollte dieser Tag ein Staatsfeiertag sein.
Bildquelle:
- Felicitas_von_Aretin: thegermanz