von PROF. DR. PATRICK PETERS
BERLIN – Der große Heinrich Heine wird es uns nachsehen, wenn wir seinen berühmt gewordenen Leidensruf zweckentfremden. „Denk ich an die Digitalisierung in Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht!“ Und fürwahr, diese Gedanken können einen wirklich um den Schlaf bringen. Denn neben der Aufdeckung politischer Orientierungslosigkeit und bisweilen schlichtweg auch Unfähigkeit in Zeiten großer Not hat die Corona-Pandemie auch gezeigt, dass Deutschland die Digitalisierung letztlich flächendeckend verschlafen hat. Verwaltung und Schullandschaft sind auf einem Stand in der Digitalisierung, dass einem Angst und Bange werden kann. Es kursiert bereits der leider allzu realitätsnahe Witz, dass in China Faxgeräte beim Antiquitätenhändler angeboten werden, aber die deutschen Gesundheitsämter damit die Corona-Krise bekämpfen. Und über den digitalen Zustand der Schulen ist bereits so viel geschrieben worden, dass man es gar nicht wiederholen mag.
Vor allem die deutsche Digitalinfrastruktur ist ein Witz. Beim internationalen Geschwindigkeitstest landete Deutschland im Januar auf Rang 34, Mitte vergangenen Jahres hatten nur 4,75 Millionen Haushalte einen Glasfaseranschluss, also gerade einmal elf Prozent. Dabei ist ein flächendeckendes Hochleistungsnetz entscheidend für eine zukunftsfähige Wirtschaft. Dieses schwache Bild wirkt daher bereits negativ in die Unternehmen hinein. Nach einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages unter 3476 Betrieben sind auch viele Unternehmen unzufrieden mit dem Netzausbau: Mehr als ein Drittel bemängelt eine unzureichende Verfügbarkeit von schnellem Internet am Unternehmensstandort.
Man denke nur an die Möglichkeiten der Industrie 4.0. Das ist die Bezeichnung für die umfassende Digitalisierung der industriellen Produktion, um sie für die Zukunft besser zu rüsten. Die Industrie 4.0 meint damit die intelligente Vernetzung von Maschinen und Abläufen in der Industrie mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologie. Diese digitale Entwicklung soll vor allem zu erheblich höheren Effizienzen im gesamten industriellen Produktionsprozess führen.
Und auch die Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) hängt maßgeblich davon ab, dass die Kommunikationsnetze mit den ständig steigenden Anforderungen Schritt halten können – wie könnten die riesigen Datenmengen sonst transportiert und verarbeitet werden? Laut dem Stuttgarter Vermögensverwalter Christian Hintz, der mit seinem Fonds „AI Leaders“ in Künstliche Intelligenz investiert, wird die KI in den kommenden Jahrzehnten der größte Treiber für Innovation und Disruption sein, die Welt und unser Leben von Grund auf verändern, sich auf alle Branchen ausbreiten und die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen nachhaltig beeinflussen. Für ihn steht die Künstliche Intelligenz sogar für die vierte industrielle Revolution: „Den Anschluss an diese Zukunftstechnologie zu verpassen, wäre unverzeihlich und könnte am Ende den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit für Unternehmen und ganze Volkswirtschaften bedeuten.“
Die fünf Milliarden Euro, die die Bundesregierung im Rahmen der Strategie Künstliche Intelligenz (KI-Strategie) bis 2025 investieren will, um Deutschland und Europa zu einem führenden Standort für die Entwicklung und Anwendung von KI-Technologien zu machen und die künftige Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu sichern, erscheinen wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Zur Einordnung des gigantischen Potenzials: Bis 2030 erwarten Experten für die Künstliche Intelligenz einen Wertschöpfungsbeitrag zum weltweiten Bruttosozialprodukt in Höhe von 1,2 Prozent pro Jahr. Aufsummiert bedeutet das bis 2030 einen zusätzlichen Wertschöpfungsbeitrag in Höhe von 13 Billionen US-Dollar. Das ist doppelt so viel wie bei den Dampfmaschinen der ersten Industriellen Revolution und der allgemeinen Informations- und Kommunikationstechnologie und dreimal so viel wie in der Industrierobotik.
Das Volk der Dichter und Denker braucht dringend einen Digitalisierungsschub beziehungsweise zunächst einmal eine Digitalisierungsstrategie. Anders kann man kaum erklären, dass selbst die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt: „Deutschland hat die Digitalisierung nicht verschlafen, sondern unterdrückt“. Die Politik muss zeigen, dass sie den digitalen Wandel wirklich will und in der Lage ist, diesen auch effizient voranzutreiben. Sonst ist die Gefahr groß, dass das Land wirklich ins Hintertreffen gerät. Und das über alle Ebenen hinweg.
Bildquelle:
- Digitalisierung_3: pixabay