Der Abzug von Bundeswehr und Nato aus Afghanistan hat begonnen

ARCHIV - Joseph Dunford (Bühne,r), Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, spricht 2017 in Kabul zu US-Soldaten. Foto: Rahmat Gul/AP/dpa

KABUL – Nach fast 20 Jahren Einsatz beginnt offiziell der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan.

Rund 10.000 Nato-Soldaten der Ausbildungsmission «Resolute Support», darunter 2500 Soldaten aus den USA und rund 1100 aus Deutschland, sollen bis spätestens September das Land verlassen haben.

Faktisch hat der Abzug nach Angaben der Nato und der Bundeswehr bereits begonnen. Bereits seit Wochen wird Material aus dem Land gebracht. Von der Nato hieß es, da die Sicherheit der Truppen höchste Priorität habe, würden keine Details zu der Operation mitgeteilt, etwa Truppenzahlen oder Zeitpläne für einzelne Staaten. Zuletzt waren 36 Nato-Staaten und Partnerländer an dem Einsatz beteiligt.

Militärstrategen rechnen mit zusätzlichen Gefahren durch mögliche Angriffe der militant-islamistischen Taliban auch auf Soldaten des Bündnisses. Die US-Armee hält schwere Waffen bereit. Für Deutschland soll das Kommando Spezialkräfte (KSK) den Abzug absichern. Jegliche Taliban-Angriffe während des Rückzugs wolle man mit einer «entschiedenen Reaktion» beantworten, hieß es von der Nato.

Die USA, Russland, China und Pakistan riefen am Freitag gemeinsam die Taliban auf, den Abzug nicht durch Anschläge und Angriffe zu stören. Nach einem Vierertreffen in Doha appellierten sie an die Konfliktparteien, das Ausmaß der Gewalt zu verringern und eine Verhandlungslösung zu suchen. Eine gewaltsam installierte Regierung werde man nicht unterstützen. Angriffe auf Zivilisten würden aufs Schärfste verurteilt.

Die militant-islamistische Terrorgruppe hielt sich eine Reaktion auf den aus ihrer Sicht verspäteten Abzug indes offen. Da der Abzug der ausländischen Streitkräfte nicht wie im USA-Taliban-Abkommen zum 1. Mai abgeschlossen worden sei, habe dieser «Verstoß» den Taliban «im Prinzip den Weg geebnet, jegliche Gegenmaßnahme» gegen die internationalen Truppen zu ergreifen, die man für angemessen halte, schrieb Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid auf Twitter.

Die Kämpfer der Taliban würden eine Entscheidung ihrer Führung abwarten, die diese im Lichte der höheren Interessen des Landes treffen wolle, und dann entsprechend handeln, schrieb Mudschahid weiter.

US-Präsident Joe Biden hatte Mitte des Monats den Abzug aller US-Soldaten aus Afghanistan bis spätestens zum 11. September angekündigt. Die Nato hatte unmittelbar darauf verkündet, das Bündnis werde den Einsatz vollständig beenden.

Mit den US-Truppen werden auch Tausende US-Vertragskräfte, sogenannte «Contractors», aus dem Land abgezogen. Laut einem Bericht des US-Generalinspektors für den Wiederaufbau in Afghanistan (Sigar) hatte das US-Verteidigungsministerium mit Stand April 2021 noch 16.800 Vertragskräfte im Land beschäftigt, die verschiedene Aufgaben erfüllen. Rund 6100 davon waren US-Bürger, weitere rund 6400 Drittstaatsangehörige und rund 4200 afghanische Staatsbürger.

Mit dem Abzug geht auch der verlustreichste und teuerste Auslandseinsatz in der Geschichte der Bundeswehr zu Ende. 59 deutsche Soldaten verloren ihr Leben, 35 bei Anschlägen oder in Gefechten. Mehr als 12 Milliarden Euro kostete der Einsatz, der ursprünglich der Friedenssicherung dienen sollte und dann zum Kampfeinsatz gegen die aufständischen Taliban wurde. Zuletzt war der Kernauftrag der Nato-Truppe die Ausbildung afghanischer Streitkräfte.

In Afghanistan wird der Abzug mit gemischten Gefühlen wahrgenommen. Lokale Medien berichten von Menschen, die sich darüber freuen und einen neuen Unabhängigkeitstag feiern wollen, wenn der letzte Soldat das Land verlassen hat. Bei anderen löst der Abzug blanke Angst aus. Vor allem finanziell gut situierte und liberale Afghanen wollen das Land verlassen. Sie fürchten eine Rückkehr des repressiven Regimes der Taliban oder einen neuen Bürgerkrieg.

Große Teile der afghanischen politischen Elite sagten, sie hätten sich einen «verantwortungsvollen» Abzug der Truppen gewünscht. Damit meinen sie, dass die USA – die durch ihren Entschluss, die US-Truppen abzuziehen, auch den Abzug der Nato-Länder ausgelöst hatten – auf weitere Fortschritte im Friedensprozess hätten warten sollen. Friedensverhandlungen der Regierung mit den aufständischen Taliban laufen seit September, sind aber zuletzt ins Stocken geraten.

Der vollständige Abzug der Truppen ist auch ein Test für die afghanischen Sicherheitskräfte, ob diese ohne direkte Unterstützung die Regierung verteidigen können. Die Taliban greifen weiter täglich Einrichtungen der Sicherheitskräfte im ganzen Land an. US-Generäle hatten in den vergangenen Wochen ihre Sorge ausgedrückt, die Regierung könne nach dem Abzug kollabieren oder es könne erneut ein Bürgerkrieg in dem Land ausbrechen.

Bildquelle:

  • Afghanistan: dpa

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