BUCHKRITIK: Unterwegs in Dunkeldeutschland

von MARC ZÖLLNER

Sehr weit war er noch nicht gekommen, der gelernte Maler und passionierte Wanderer Sebastian Hennig, als ihn plötzlich das Durstgefühl übermannte. Die hell glühende Sommersonne hatte gerade ihren Zenit passiert und Hennig, auf halber Strecke seiner Tagesreise zwischen seinem Heimatort Radebeul und dem gut 50 Kilometer westwärts entfernten Döbeln, inmitten der schattenlosen Felder in der sächsischen Einöde um das kleine Städtchen Nossen gnadenlos ins Auge gefasst. Ein denkbar ungünstiger Moment, befindet Hennig. „Der Minztee in meiner Flasche neigt sich dem Ende zu“, hält er später auf Papier fest – und weit und breit kein offenes Gasthaus, keine Kneipe, kein einladendes Restaurant in Sicht. Ganz anders als in seiner Erinnerung; so wie vor 20 Jahren, als Hennig, damals noch als junger Student, zu seinen ersten Wanderungen durch die gleiche Region gereist war und die Gaststuben, kurz nach der Wende, „immerhin zwei Stunden am Mittag und dann wieder nach Feierabend geöffnet“ hatten.

Langsam beginnt sich Hennig ernsthaft zu sorgen: Denn immerhin stehen ihm noch mehrere Tage anstrengenden Reisens bevor – und schon jetzt scheint offensichtlich, dass sein Ausgangspunkt alles andere als glücklich beschienen ist. „Werde ich gar verdursten auf meinem Weg durchs öde Pegidistan?“, fragt er sich stirnrunzelnd. Doch Rettung – das sei vorweggegriffen – naht, nach nur zehn Kilometern Fußmarsch. Zwar nicht in Form des erwünschten Gasthauses, aber immerhin als einsamer Steintrog auf einem noch einsameren Kirchplatz in einem jener unzähligen, von Menschen halb verlassenen Nester und Dörfer, die das Herzstück der sächsischen Provinz charakteristisch prägen.

In zwei Stunden, schreibt Hennig, ginge bereits die Sonne unter. Noch zwölf Kilometer habe er bis dahin zu laufen. Doch trotz alledem habe noch so viel Zeit zu bleiben, sich in diesem Dörfchen im Herzen des Nirgendwo noch einmal gründlich umzuschauen. Was er sieht, erstaunt den Wanderer: Alte Gemäuer, Herrensitze und Kriegsdenkmäler; eine geschickt konzipierte Brunnentechnik; verlassene Güter, schweigsam im Sonnenschein radelnde alte Männer und wild wuchernde Efeuranken. Hennig ist angekommen. Hier ist Heimat. Und mag sie dem flüchtigen Durchreisenden noch so trist erscheinen.

Für sein neues Buch „Unterwegs in Dunkeldeutschland“, welches diesen Frühsommer im Verlag C. C. Meinhold in Dresden erschien, hatte sich der Autor vorab eine Menge vorgenommen. Oft mehrere Tage dauernde Wanderungen standen auf seiner Liste, querfeld durch Sachsen, die Lausitz und Brandenburg, und stets gewappnet mit den wichtigsten Utensilien seiner Zunft: Mit Gehstock und Wanderhut, die Stöpsel des MP3-Players in den Ohren, den Schlafsack auf den Schultern, der Feldflasche am Gurt und einem Bündel loser Blätter zum Schreiben im Gepäck. Dass er letzteres zweifelsohne kann, beweist er bereits seit gut fünfzehn Jahren, beispielsweise als Journalist für das Feuilleton des Deutschlandfunks und der Jungen Freiheit, als fester Beitragender der Zeitschrift Tumult, aber auch als Verfasser der Pegida-Chronik „Spaziergänge über den Horizont“.

Nahtlos reiht sich auch sein neues Buch in Hennigs selbst gewählten journalistischen Auftrag: Ein anderes Bild von Sachsen zu zeichnen; eines frei von Vorurteilen, und doch unverstellt neben den schönen Seiten auch das Hässliche seiner Heimat zu portraitieren. Wie im Feuilleton, so bleibt er auch auf seinen Wanderungen Kritiker; jener des rapiden Abbaus der dörflichen Infrastruktur, der überalterten ländlichen Gesellschaft, der zur Schließung gezwungenen Gasthöfe fernab der modernen Fernverkehrsstraßen sowie des einzig noch verbliebenen prosperierenden Wirtschaftszweiges im Ausverkauf der einstmals wohlhabenden Bauerngemeinden: Dem Altgoldhandel, dessen Werbeplakate ihn wie ein Leitmotiv auf sämtlichen seiner Reisen durch die Provinz begleiten.

In einer erzählerisch einmaligen Dichte verwebt Hennig dabei Momente seiner eigenen Biografie – als in der DDR Sozialisierter, als Kunststudent und freischaffender Maler, als Wandersfreund und deutscher Muslim – mit liebevoll detailliert gestalteten Chroniken der von ihm besuchten Ortschaften und Landstriche, mit philosophischen Feldweggesprächen über Kunst, Musik und Architektur sowie der ethnografischen Beschreibung einer Region, über welche sonst nur aus der Ferne berichtet wird. Sein Buch, so Hennig, sei immerhin „eine Abrechnung mit dem Zeitgeist und den Kritikern des Wilden Ostens, die selbst nie Fuß auf dieses herrliche Fleckchen Land gesetzt haben.“

Und dass es selbst in der Armut und der Tristesse der sächsischen Provinz noch reichhaltige Schätze zu entdecken gibt, davon weiß Hennig in seinem Werk mannigfaltig zu berichten. Gerade, was ihre Einwohner betrifft: Die zweite Generation an Wendeverlierern in den strukturschwachen Gemeinden fernab der Leuchttürme der sächsischen Industriezentren. Die Jugend, die trotz überdurchschnittlich guter Ausbildung keine Zukunft für sich findet. Die trotzdem das Glück des Moments und der Heimat für sich zu gewinnen versteht.

„Die Jugend hier“, weiß Hennig von einer Stippvisite am Freibad eines kleinen Dorfes zu berichten, „das sind die Loser, deren Eltern nicht mit ihnen ans Mittelmeer, nach Schweden oder auf die Malediven fahren. Tatsächlich sind sie Gewinner der Wirklichkeit. Denn Langeweile daheim birgt tieferes Erleben als animiertes Ereignis in der exotischen Fremde. Es sind keine gezähmten Konsumenten, sondern skrupellose Nutznießer des Schönen.“

Doch das zu erkennen, so Hennigs Fazit, bedarf einer tieferen Erfahrung: Nämlich selbst den Stecken zur Hand zu nehmen, sich in die Büsche seiner Heimat zu schlagen, an den Ufern der nahen Bäche und Teiche zu campieren – oder schlicht auf dem Markt seiner Ortschaft flanieren zu gehen. Zu entdecken gibt es überall Schönheit. Man muss nur den Mut haben, sich vor die Tür zu wagen. Ein Mut, der oftmals mehr als belohnt wird. Gerade in einer Welt, wie Hennig anmerkt, „die zwischen Dynamisierung und Erstarrung kein Mittelmaß mehr finden kann.“ Allein zu wandern, und das beweist Hennigs reichlich mit Fotografien aus der sächsischen Provinz bebilderte Buch eindrucksvoll, bricht dieses dialektische Dilemma auf – und erlaubt jenen tieferen, sinnlichen Blick hinter die Fassade, welchen der Autor auf seinen Wanderungen durch Sachsen zu lieben gelernt hat.

„Denn nur wo Du zu Fuß warst“, beschließt Hennig seine Reiseeindrücke, „bist Du auch wirklich gewesen.“

 

Sebastian Hennig: Unterwegs in Dunkeldeutschland. Dresden: Verlag C. C. Meinhold & Söhne. 176 Seiten; mit zahlreichen Abbildungen. 24 Euro.

Bildquelle:

  • Wandern: dpa

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