von AKIO TANAKA, Tokyo
TOKYO – Die Maschine landete auf dem Flughafen von Nagasaki um 15.10 Uhr, 20 Minuten früher als geplant. Passend zu einem perfekt funktionieren Land wie Japan. Und doch kommt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in einem Japan an, das aufgewühlt ist, und verunsichert. Zwei Tage zuvor war Ex-Premier Shinzo Abe bei einer Wahlkampfveranstaltung hinterrücks erschossen worden. So etwas gibt es in Japan eigentlich gar nicht, Morde kaum, politische Morde erst recht nicht.
Und – ach ja – es ist auch noch Wahltag. Am 10. Juli wird ein Teil des japanischen Oberhauses neu gewählt, die zweite Kammer der japanischen Demokratie. Aber das mit der Wahl hat die Nation nicht aufgewühlt. Eine Bestätigung der regierenden Koalition aus einer ganz großen und einer ganz kleinen Partei wurde erwartet. Hauptsächliche politische Folge: Wenn die regierende LDP diese Teilwahl wie erwartet gewinnt, zusammen mit ihrem kleinen Dauer-Partner, der buddhistischen Komeito-Partei, dann herrscht erst mal für drei Jahre Ruhe. Endlich mal nicht ständige Vor-Wahl-Zeit, und Premier Kishida könnte endlich wichtige Themen durchziehen. Aber jetzt das.
Frau Baerbocks Besuch findet natürlich nicht spontan statt, war schon länger geplant. Aber er hat jetzt noch an Bedeutung gewonnen. Die demokratischen Länder stehen zusammen. Das ist mehr denn je die Botschaft ihres Besuches. Nun erst recht.
Das Timing stimmt also, wenn auch eher zufällig, aber immerhin.
Glück hat auf Dauer bekanntlich nur der Tüchtige. Und dass die deutsche Außenministerin tüchtig ist, bestreiten selbst ihre Parteigenossen nicht mehr. Bedauern muss man eher die begleitende, frischgebackene Staatssekretärin Morgan, deren großer Auftritt eigentlich auf Palau sein sollte, der letzten Station vor dem Eintreffen der Delegation in Japan. Nur interessiert das jetzt niemanden mehr. Nicht nur der Ukraine-Krieg stiehlt der staatlich gewordenen Klimaaktivistin jetzt die Schau, sondern auch noch die Ereignisse in Japan.
In Nagasaki besteht Frau Baerbocks Programm in der Ehrung der Atombombenopfer – samt Zusammentreffen mit Überlebenden. Und dann ein Termin mit Studenten. So richtig ernst wird es erst am 11. Juli, wenn sie zu politischen Gesprächen in Tokyo ist. Da spielt die Sicherheitspolitik die Hauptrolle, Klimathemen bloß als Begleitmusik – ganz wie neulich bei der Visite von Kanzler Scholz.
Aber zurück zu dem politischen Mord.
Wer um Himmels Willen kann ein Interesse daran haben, Shinzo Abe zu ermorden?
Er war der längstdienende Premier des Landes, aber schon nicht mehr im aktiven Dienst. Er galt als konservativ, war aber in Wirklichkeit ein Veränderer. In einer Biographie wurde er schon vor Jahren sogar als Bilderstürmer qualifiziert. Nur dass sein „umstürzendes“ Programm nicht im westlichen Sinne liberal war, sondern darauf zielte, Japan zu einem „normalen“ Land zu machen und aus dem Nachkriegspazifismus endlich heraus zu holen. Aber in gewisser Weise wollen das seit Putins Krieg inzwischen fast alle in seiner Partei. Nur sprechen sie zurückhaltender davon, als es Abe tat.
Deshalb jemanden ermorden? Und was sollen die Geschichten von seiner angeblichen Beziehung zur „Vereinigungskirche“ aus Korea, deren Bedeutung in Japan marginal ist? Außerdem spielt Religion in Japan ohnehin keine öffentliche Rolle – mit Ausnahme jener harmlosen, gemäßigten buddhistischen Komeito-Partei, die schon immer als Anhängsel der LDP ein wenig mitregiert.
Sollte sich irgendwann herausstellen, dass mehr hinter dem Anschlag steckt, als das gestörte Gehirn eines durchgeknallten Außenseiters, dann werden die damit verfolgten Ziele jedenfalls nicht erreicht werden. Japan ist längst auf einem neuen Kurs des Selbstbewusstseins, wobei Shinzo Abe dazu mehr beigetragen hat, als alle seine Vorgänger und bisherigen Nachfolger. Japan lässt sich nicht in die Neurose zurückstoßen. Annalena Baerbock kann sich nun selbst davon überzeugen.