von LISA FORSTER
BERLIN – Schon erstaunlich, dass man einst mit ein paar bluesigen Gitarrenriffs als Verkörperung des Bösen gelten konnte.
Als die Rolling Stones 1965 ein inzwischen legendäres Konzert in der Berliner Waldbühne gaben, das damit endete, dass Fans Bänke zertrümmerten, Laternen umstürzten und S-Bahnen demolierten, war der Ruf als «härteste Band der Welt» perfekt. Dutzende Menschen wurden verletzt und festgenommen, der Schaden ging in die Hunderttausende. Die Waldbühne war jahrelang nicht benutzbar.
57 Jahre später kommen die Stones wieder auf die Bühne im Berliner Westen (nach zwei weiteren Konzerten 1982 und 2014). Wie die Verkörperung irgendeiner bösen Kraft wirken sie inzwischen nicht mehr. Doch frenetisch gefeiert werden sie immer noch. Das Konzert in der Waldbühne ist der Abschluss ihrer Europatournee zum 60-jährigen Bestehen. Und eine Lehre darin, was die bekannteste Rockband der Welt bis heute ausmacht.
«Tach, Berliner» – Eine Lektion in gutem Entertainment
Möchte man eine Stärke Mick Jaggers hervorheben, ist es seine Bühnenpräsenz. Der 79-Jährige wirkt nicht mehr so, als würde der Teufel persönlich seinen Körper durchschütteln. Aber er schreitet immer noch mit großer Vitalität auf der Bühne hin und her, zuckelt mit seinen ausgestreckten Armen, kreist die Hüften, trippelt mit den Füßen – und richtet sein Wort immer wieder ans Publikum. «Tach, Berliner», ruft er nach dem Opener «Street Fighting Man» auf Deutsch. «Wie geht es euch?»
BER-Witz von der Rocklegende
Später scherzt er über die lange Bauzeit des Berliner Flughafens BER und sagt: «Glad to see the airport is finally finished» (dt. «Ich bin froh zu sehen, dass der Flughafen endlich fertiggestellt wurde»). Man sei von dort mit dem 9-Euro-Ticket losgefahren, um eine Currywurst zu essen und den Pfefferminzlikör «Berliner Luft» zu trinken. «Nach fünf Schnäpsen war mein Deutsch perfekt.»
«Es ist gut, zurück in Berlin zu sein», sagt auch Gitarrist Keith Richards, «weil man nie weiß, was passiert.» Vermutlich spielt er damit auf den alten Waldbühnen-Auftritt an. Was die Stones damals wohl noch nicht so beherrschten (so sollen sie Erzählungen zufolge nach einem 20-minütigen Set lustlos verschwunden sein), haben sie inzwischen perfektioniert. Entertainment, Outfitwechsel und andere Spektakel sowie ein je nach Konzertort individuelles Interagieren mit den Fans – alles, was ein großes Popkonzert bis heute zu einem unvergleichlichen Ereignis macht.
Ein Sound, der bis heute einmalig ist
Unvergleichlich ist natürlich auch die Musik. Die Formel ist einfach: Keith Richards schlägt seine prägnanten Riffs an, Ron Wood verziert die Lieder mit Gitarrenmelodien. Über allem schwebt Mick Jagger mit seinem markanten Gesang, inzwischen ein bisschen rauer und knurrender, aber immer noch beeindruckend voluminös. Die Stones präsentieren ihre tausendfach gespielten Lieder bis heute mit Hingabe, die Songs wirken energisch, druckvoll. Bei dieser Tour waren es unter anderem: «You Can’t Always Get What You Want», «Paint It Black», «Tumbling Dice», «Out of Time» oder «Honky Tonk Woman».
Bloß der langjährige Schlagzeuger Charlie Watts (1941-2021) ist nicht mehr dabei, am Anfang werden Videosequenzen von ihm gezeigt. «Diese Show widmen wir Charlie», sagt Jagger auf Deutsch.
Das Publikum in der größtenteils mit Sitzplätzen ausgestatteten Waldbühne steht von der ersten Sekunde an, jubelt, liegt sich in den Armen. Heute stecken in dieser Musik die Erinnerungen mehrerer Generationen. Die unvergleichliche Menge an zeitlosen Hits, die die Stones in ihrer Geschichte angesammelt haben, begeistert – so wirkt es bei einem Blick ins Publikum – immer wieder aufs Neue junge Menschen.
Rockmusik, die unsterblich macht
Stichwort jung: Die Stones waren 1965 die Rebellen gegen das Establishment, die böse Version der Beatles. Damit konnten sich in den 1960er Jahren viele Menschen identifizieren. Heute ist das anders.
Eine jüngere Musikhörerin aus dem Publikum sagt vor dem Konzert, sie sei auch hier, weil es an sich eine unglaubliche Leistung sei, wenn Männer weit über die 70 noch eine solche Show liefern könnten. Schaut man sich diese fröhlichen, energetischen Zauberer auf der Bühne an, kann man dem nur zustimmen.
Und merkt: Auch heute rebellieren die Stones noch – allerdings nicht mehr gegen die Gesellschaft, sondern gegen die Zeit. Jagger und Co. wirken, als wären sie dem Reich der Sterblichen enthoben. Wie ansonsten könnte man sich mit 79 so bewegen? Und das ist am Ende vielleicht der Traum, der 2022 auf die Rolling Stones projiziert wird: Dass Rockmusik unsterblich macht.
Bildquelle:
- Rolling Stones: dpa