von THOMAS PHILIPP REITER
CHAUDFONTAINE – Nicht nur in Deutschland ist der Katholizismus auf dem Rückzug, sondern praktisch überall in Europa. Besonders schmerzhaft ist der Verlust der Basilika „Unserer Lieben Frau von Chévremont“. Sie war einst nicht nur ein bedeutender Wallfahrtsort, dem im 19. Jahrhundert alljährlich Tausende Pilger zuströmten, sondern immerhin wurde der Urgroßvater von niemand Geringerem als Karls des Großen hier beigesetzt. Den neuen Eignern dürfte das egal sein, da nun Shareholder value im Vordergrund steht.
In Belgien kennt man die Stadt Chaudfontaine vor allem als Mineralwassermarke, die inzwischen zum Coca-Cola-Konzern gehört. Und doch liegt sie reizvoll an einem Fluß, der zufällig wie sein deutscher Namensvetter den Namen „Weser“ trägt. Das imposante Gebäude steht auf einem Plateau von 400 Metern Länge und etwa 150 bis 200 Metern Breite im Ortsteil Chèvremont und beherrscht dort das Tal. 2017 hatte der bis dahin dort residierende Karmeliterorden die Entscheidung getroffen, das insgesamt zwei Hektar große Grundstück, welches Kulturgüter von unschätzbarem, aber eben immateriellem Wert birgt, zu verkaufen. Es gab schlicht keine Ordensbrüder mehr, die sich kümmern konnten. 2020 erwarb ein Konsortium für Immobilienentwicklung aus Brüssel die Basilika, aber auch den Kreuzgang, das Kloster und die kleinen Häuser ringsum zum Preis von immerhin 1,145 Millionen Euro. Nun sollen in und neben dem Gebäude 70 Wohnungen mit dem nichtssagenden Namen „Colline de Chèvremont“ (Hügel von Chèvremont) entstehen.
Es seien der Charme und die außergewöhnliche Lage, die zur Kaufentscheidung geführt hätten, lässt sich der Projektentwickler zitieren: „Jede Wohnung wird einzigartig sein, weil sie in die äußere Struktur passt, die erhalten bleibt. Wir werden die Vertikalität beibehalten, die wir von unten sehen“, erklärt Carlos De Meester. In diesem Jahr wurde die Baugenehmigung beantragt und man hofft, sie bis 2024 zu erhalten. Auch wenn er eine gewisse Traurigkeit nicht verhehlt, keinen Käufer gefunden zu haben, der der Kirche oder wenigstens Glaubensfragen nahesteht, äußert sich der Bischof von Lüttich, Jean-Pierre Delville, dennoch sehr zufrieden: „Der Standort erfordert große Investitionen. Die muss jetzt das Immobilienprojekt erwirtschaften. Die Außenstruktur bleibt erhalten, sie steht zudem unter Denkmalschutz, und die monumentalen Innenbauten wie die große Mensa sollen von den Architekten für eine vielseitige Nutzung erhalten bleiben, damit die Handschrift des Gebäudes respektiert und genutzt wird von so vielen Menschen wie möglich“. Was er nicht sagt: damit begibt sich die christlich-abendländische Kultur in Westeuropa ein weiteres Mal auf den Rückzug.
Pippin der Mittlere, Urgroßvater Karls des Großen
Dabei handelt es sich bei der „Basilique Notre-Dame de Chèvremont“ eben nicht um irgendein inzwischen ungenutztes Gotteshaus. Sie ist vielmehr Bestandteil der Wiege Europas und war seit dem siebten Jahrhundert ein Wallfahrtszentrum, in dem eine Statue der Jungfrau Maria als Mutter der Barmherzigkeit verehrt wurde. Der Hügel Chèvremont, auf dem sie steht, wurde gemäß Ausgrabungen seit prähistorischen Zeiten für Befestigungsanlagen genutzt, später auch von Römern und Merowingern. Der merowingische Hausmeier Pippin der Mittlere stiftete an diesem Ort eine Kanonikergemeinschaft aller Weihestufen. Er und auch Karl Martell sollen sich in Chèvremont und im benachbarten Jupille vor allem zu Ostern regelmäßig aufgehalten haben. Demnach dürfte Chèvremont als Fluchtburg und Jupille als Pfalz gedient haben. Jupille ist inzwischen ein industrieller Teil der Stadt Lüttich und vor allem durch das in ganz Belgien beliebte, hier gebraute Bier „Jupiler“ bekannt. Reste der Pfalz finden sich dort allerdings nicht mehr.
Jupille war gemeinsam mit der Nachbargemeinde Herstal eine der Hauptresidenzen der Merowinger und Karolinger. Pippin der Mittlere, Karl Martell, Pippin der Jüngere und nicht zuletzt Karl der Große, Urenkel Pippins, hatten enge Verbindungen zu beiden Orten und eben auch zu Chèvremont. In Herstal befindet sich heute Belgiens größte und bekannte Waffenschmiede „Fabrique Nationale d’Armes de Guerre“, kurz „FN Herstal“.
Pippin, um 635 geboren, wurde daher auch Pippin von Herstal genannt. Aus dem Geschlecht der Arnulfinger stammend war Pippin von 679 bis 714 der tatsächliche Machthaber im gesamten Frankenreich. Schon ab 679 war er Hausmeier in dessen östlichem Teil, also der Wiege der Karolinger. 680 stieg er zum machthabenden Herzog auf 688 zum Hausmeier von Burgund. 695 wurde er auch formal Hausmeier (principalis regimen majorum domus) des westlichen Teils, obwohl er faktisch dort schon seit 687 die Macht innehatte. Er starb am 16. Dezember 714 nach langer Krankheit in Jupille und wurde 714 in Chèvremont beigesetzt. Eine Gedenktafel für ihn findet sich sogar in der Walhalla bei Regensburg.
Eine seiner wichtigsten militärischen Leistungen war die Eroberung Frieslands in den Jahren 690 bis 695. Dies war die Voraussetzung für die Christianisierung der Friesen durch den angelsächsischen Mönch Willibrord. Willibrord ist heute der Nationalheilige des Großherzogtums Luxemburg. Dessen sterblichen Überreste bilden heute das geistige Zentrum der Basilika von Echternach und sind Kern der Springprozession, die dort jedes Jahr am Dienstag nach Pfingsten stattfindet.
Klosterburg, Fluchtort, Herrschaftssitz
Auch wenn Chèvremont nicht an einem Hauptverkehrsweg lag, so war die Lage von Burg und Kloster doch geschickt gewählt, denn im dicht besiedelten Raum um Maastricht und Lüttich war dies der perfekte Ort für eine Festungsanlage. Chèvremont gehörte zu den frühen Besitzungen der Karolinger, zu denen auch die Höfe Jupille, Hermalle und Herstal gehörten. Vermutlich war dieser ursprünglich zusammenhängende, ausgedehnte Besitzkomplex im heutigen Belgien schon zu Beginn des 8. Jahrhunderts Herrschaftsgebiet der Karolinger.
Bei den Invasionen der Normannen im 10. Jahrhundert zogen sich vor allem die Mönche von Stavelot und die Nonnen von Moorsel auf die Klosterburg von Chèvremont zurück, die als uneinnehmbar galt. Damit wuchsen auch die Bedeutung und der Besitz der Abtei. 987 eroberte die byzantinische Kaiserin Theophanu zusammen mit Notger, dem Fürstbischof von Lüttich, die Burg und schleiften sie. Trotz der zerstörten Kirche dauerte die Wallfahrt an. Am oberen Teil des Hangs errichteten 1688 englische Jesuiten aus Lüttich eine fünfeckige Kapelle. Über der 75 Zentimeter großen Statue der Muttergottes der Barmherzigkeit stehen die Anrufung und die Jahreszahl: „S. MARIA ORA PRO ANGLIA 88“. Auf dem Weg zur Kapelle befinden sich sieben Oratorien, die die sieben Schmerzen Mariens darstellen.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen dann Besuche und Pilgerfahrten zu. Die Eröffnung der Bahnstrecke von Aachen nach Lüttich mit der Haltestelle Chaudfontaine erhöhte ab 1863 die Zahl der Pilger und Touristen weiter. Am 4. Mai 1874 pilgerten mehr als 20.000 Menschen nach Chèvremont, um für Papst Piuus IX. zu beten, der den Kirchenstaat nach der italienischen Einigung von 1870 preisgeben musste und sich fortan als „Gefangener im Vatikan“ sah. Der damalige Bischof von Lüttich Théodore de Montpellier gab den Anstoß für die Errichtung eines Klosters auf dem Hügel. Er übereignete das Gelände mit den bestehenden Bauten an den Karmeliterorden, der hier Pilger betreuen und eine angemessene Kirche entstehen lassen sollte. Nach Baubeginn 1877 konnten die Karmeliter 1878 ihr Kloster eröffnen. Bischof Victor-Joseph Doutreloux weihte die Kirche am 8. September 1899, dem Fest von Maria Geburt.
Während des Ersten Weltkriegs wurde die Kirche am 4. August 1914 bei der blutigen Eroberung Lüttichs durch brandschatzende deutsche Artillerie, die auch zivile Opfer bewusst in Kauf nahm, wesentlich beschädigt. Der Wiederaufbau erfolgte mit Hilfe der Kriegsentschädigungen, die Deutschland gemäß dem Versailler Vertrag an das Königreich Belgien zu zahlen hatte, das besonders unter den deutschen Besatzern und ihren Gräueltaten zu leiden hatte. Am 9. September 1923 fand eine große Wallfahrt mit 40.000 Gläubigen statt, bei der die Statue der Notre-Dame de Chèvremont feierlich gekrönt wurde. Im Jahr 1928 erhob Papst Pius XI. die Kirche in den Rang einer Basilika minor. Dieser päpstliche Ehrentitel bezweckt eigentlich „die Stärkung der Bindung der einzelnen Kirchen an den römischen Bischof und soll die Bedeutung dieser Kirche für das Umland hervorheben“. Mit Blick auf den Ausverkauf spielt das heute offenbar keine Rolle mehr.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde der Hügel von Chèvremont am 10. Mai 1940 beim Angriff auf das Fort erneut von den Deutschen bombardiert und stark beschädigt, und noch einmal bei einer Bombardierung am 23. November 1944. Nur die kleine Kapelle der englischen Jesuiten blieb verschont. Der Wiederaufbau begann 1946 mit Hilfe deutscher Gefangener, doch mit geringen finanziellen Mitteln. Durch die Marienerscheinung, die 1933 im nahen Banneux stattfand, hatte die Bedeutung der Kirche als Pilgerziel stark nachgelassen. Banneux hingegen ist auch heute noch ein bedeutender belgischer Wallfahrtsort, den 1985 sogar Papst Johannes Paul II. besucht hatte. Chèvremont mit seiner großen Historie hingegen ist für die katholische Kirche unwiederbringlich verloren.
Bildquelle:
- Kapelle_Belgien: thomas philipp reiter