von ULRIKE TREBESIUS
SEOUL – Mehr als 111 Millionen Zuschauer weltweit haben die südkoreanische Netflix Serie „Squid Game“ geschaut. Damit ist die Staffel die erfolgreichste Netflix-Produktion überhaupt.
In neun Folgen erleben wir die Geschichte von fast 500 Menschen, die hoch verschuldet sind und die eine rätselhafte Einladung annehmen, um ein Preisgeld in Millionenhöhe zu gewinnen. 456 Teilnehmer melden sich zu diesem Wettkampf an, bei dem sie in Kinderspielen gegeneinander antreten. Was vorher kein Teilnehmer wusste, wird bereits im ersten Spiel klar: das ist ein Spiel um Leben und Tot. Wer verliert, erhält keine zweite Chance. Die Exekution erfolgt an Ort und Stelle von maskierten Männern, deren Rang nur daran zu erkennen ist, ob sie einen Kreis, ein Dreieck oder ein Viereck auf der Maske tragen. Gesteuert wird das Spiel ebenfalls von einem Maskierten, der ungerührt bei einem Drink dem Kampf ums Überleben seiner Gäste zuschaut.
Worauf beruht der Reiz, der so viele Zuschauer weltweit in seinen Bann schlägt? Zunächst müssen wir keine komplizierten Spielregeln begreifen, um dem Handlungsverlauf zu folgen. Vielmehr ist ganz klar: wer beim Murmeln verliert, wird erschossen. Das Leben heruntergebrochen auf das Grundsätzliche: Wer überlebt?
Man identifiziert sich mit den Charakteren: dem Loser Nr. 456, der seine Mama mies behandelt hat und dem man nicht viel zutraut. Mit einem pakistanischen Illegalen, dem die koreanische Kultur fremd ist; einer jungen Frau, der die Flucht aus Nord-Korea gelungen ist und die für sich und ihren kleinen Bruder ein besseres Leben will. Dem Banker, der sich verzockt hat und dem Gangster, der alles mit der Faust regelt. Oder mit Nummer 1, einem alten Mann, dem die Demenz mitunter bei den Kinderspielen hilft, denn er erinnert sich an längst vergessene Tricks.
Wir können in „Squid Game“ alles hineininterpretieren: eine Kapitalismuskritik ebenso wie eine Gesellschaftskritik oder eine Kritik an unserer westlichen Demokratie. Es kann Kritik sein an einer Welt, in der die handelnden Personen täglich ums Überleben kämpfen müssen. Manchmal gewinnt der Stärkste, manchmal der Klügste. Mitunter ist es klug, Allianzen einzugehen. Doch am Ende kämpft jeder für sich allein.
Wir können es als Kritik an einer Gesellschaft verstehen, in der sich die Menschen untereinander an die Gurgel springen, anstatt die Verursacher ihrer Pein gemeinsam zur Verantwortung zu ziehen. Bei „Squid Game“ wird die Frage gestellt, was macht den Menschen zum Menschen. Und wie schnell die Grenze zum unmenschlichen überschritten wird. Wann wird aus meinem Nachbarn und meinem Freund, mein Gegner, mein Feind? Wir beobachten Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit verschiedenen Motivationen und Zielen, Wünschen und Hoffnungen. Wir stellen uns selbst immer wieder die Frage: Wie würde ich handeln? Was macht das Leben lebenswert. Und wann würde ich aufhören zu kämpfen?
„Squid Game“ stellt große Fragen in einer bunten, künstlichen und infantilen Umgebung. Dabei ist der Film selbst hart, zynisch, dystopisch und beängstigend. Wer möchte, kann alle übergreifenden Fragen in „Squid Game“ hineininterpretieren. Und wer das nicht will, der sieht einfach einen wahnsinnig spannenden Thriller. Und wird aufs beste unterhalten.
Bildquelle:
- Squid_Game_2: dpa