von MARK ZELLER
MÜNCHEN – Deutschland-Spieltag bei der EM, entscheidendes Gruppenspiel, alles oder nichts. Zur Halbzeit luegt Ungarn gegen Deutschland mit 1:0 in Führung. Doch während Schwarz-Rot-Gold nur ganz wenig zu sehen ist, wird allenthalben anderweitig aufgeflaggt, vor allem digital: Überall Regenbogen, sogar in traditionell Fußball-fernen Schichten und vorzugsweise unter sonstigen Fahnen-Allergikern. Ein Land bekennt sich auf seine Weise zu seinem Lieblingssport: Haltung statt Fußball.
Auslöser: Das Verbot der UEFA, die Münchner Spielstätte für das Duell Deutschland gegen Ungarn bunt zu beleuchten. So, wie es die Statuten nun mal vorsehen. Doch viele ideologisch besonders stramme Zeitgenossen haben ihre Probleme mit der Einhaltung von Regeln, solange die nicht zu ihren Gunsten geschieht, und so lassen sie jetzt erst recht ihrer Haltungsdoktrin freien Lauf. Dass sie dabei ein geradezu beängstigendes Maß an Deutungshoheit beanspruchen, darf dabei offenbar nicht stören. Eine geradezu pathologische Besessenheit, aller Welt zu zeigen, dass wir jetzt die Guten sind, die medial aus allen Rohren angefacht wird: Radio, Fernsehen, Internet, die großen Nachrichtensendungen. Es gibt nur noch ein Thema und, viel schlimmer, nur noch eine Perspektive.
Doch je mehr Eigendynamik das Ganze entwickelt, umso drängender die unbeantworteten Fragen, die im lärmenden Weltverbesserungswahn wohlfeil unterdrückt werden: Wo ist bei der Sache überhaupt der Anknüpfpunkt zum Fußball? Werden „Andersliebende“ bei einem EM-Spiel unterdrückt? Verbietet die UEFA Schwulen das Mitspielen? Verbreitet die ungarische Nationalelf Homophobie? Und welchen negativen Einfluss hat die ungarische Regierung für einen auf den Fußball? Nun, die UEFA bekennt sich ausdrücklich für Diversität, hat heute sogar ihr eigenes Logo in „bunt“ getaucht. Und die Ungarische Nationalelf hat mit ihrem Torwart Gulácsi sogar einen der schärfsten Kritiker der Ungarischen Regierung in ihren Reihen. Und er wird dafür genauso wenig sanktioniert, wie Homosexuelle in seinem Heimatland.
Nun entspricht die ungarische Gesellschaftspolitik nicht den guten deutschen Wertmaßstäben. Allerdings: Das tut sie auch nicht bei den EM-Teilnehmern Italien, Kroatien, der Schweiz, Tschechien, Nordmazedonien, Polen, Russland, der Ukraine und der Türkei. Eingeschossen wird sich aber nur auf Ungarn. Seltsamer Zufall oder willkommenes Mütchen-Kühlen an der unbequemen Orban-Regierung?
In jedem Fall gibt es verdammt gute Gründe, warum die UEFA einer offenkundigen Politisierungsaktion entgegensteht, wie alleine ein Blick in die Geschichtsbücher verrät. Und nehmen wir an, sie ließe jetzt die „Guten“ gewähren, und in vier Jahren schwingen sich andere zur Absolutheitsanspruch auf, was dann? Was, wenn dann plötzlich statt der ungarischen Familienpolitik etwa die israelische Siedlungspolitik zum Thema eines Sportereignisses gemacht werden soll? Und überhaupt taugt, wie bei jeder Regelung, auch eine Trennung von Sport und Politik nur dann, wenn sie wirklich für alle gilt.
Aber schon fliegen die sattsam bekannten Moral-Keulen tief: „ Menschenrechte sind keine Politik!“ dröhnt es aus den Kommentarspalten. Und wer möchte sich schon gegen „Menschlichkeit“ stellen? Und da zeigt sich überdeutlich, wessen politische Agenda hier läuft: Die der „Moral vor Argumente“-Fraktion. Doch genau das ist eine ganz gefährliche Entwicklung. Denn es ist immer noch ungeklärt, wer im Besitz der einzigen Wahrheit ist. Und eine solche Herangehensweise an egal welche Themen trägt eben nicht bei zur Freiheit und Vielfalt, sondern, im Gegenteil, verengt ganz gezielt Debatten und Meinungskorridore. Und jeder, der noch so wohlmeinend sein buntes Fähnchen in den Wind hängt, wird zum Steigbügelhalter dieser unsäglichen Praxis.
Wirklicher Fortschritt erfolgt über kritische Diskussion und nicht über ideologisierte Einheits-Kampagnen. Das ist oft anstrengend und langatmig – doch ganz offensichtlich hier nicht gewollt. Stattdessen muss sich heute schon rechtfertigen, wer sich nicht blindlings an einer „Massenbewegung“ beteiligt. Belohnt, und sei es durch digitalen Zuspruch, wird, wer vorbehaltlos mitzieht. Eine perfider Mechanismus, bei dem alle Alarmglocken schrillen müssen.
Der Polit-Experte Robin Alexander bringt die Problematik auf den Punkt, wenn er sagt: „Die moralische Klarheit, die man in anderen, viel drängenderen Politikfeldern nicht abzubilden in der Lage ist, die wird plötzlich im Fußball dargestellt.“ Man möchte hinzufügen: Genau da, wo es nicht hingehört. Wo aber auch der geringste Widerstand droht. Sowas nennt man Gratismut. Und der darf einen schon dezent anekeln, wo auf der anderen Seite die allermeisten Flagge-Zeiger ansonsten nicht mal ihr Maul aufkriegen, wenn im heimischen Freibad schwule Pärchen von „Jugendlichen“ attackiert werden.
Ohnehin hat man bei der Zurschaustellungsorgie der guten Tat weniger das Gefühl, dass es um die eigentlichen Adressaten geht. Kritische Stimmen aus der Community selbst werden niedergeschrien. Zudem ist es mehr als zweifelhaft, dass man mit dieser Art der Dauerberieselung auch nur einen wirklich homophoben Zeitgenossen zum Umdenken kriegt. Viel größer ist hingegen die Wahrscheinlichkeit, dass sich zahllose andere, die dem Thema gegenüber bisher völlig vorbehaltlos waren, durch die einseitige Priorisierung und omnipräsente Zwangspenetration schwer genervt abwenden. Aber das wird genauso wenig berücksichtigt, wie die immer größere Anzahl der Fußball-Fans, die davon „nur noch die Schnauze voll haben“.
Und der inhaltliche Lackmus-Test zeigt sich ohnehin spätestens bei der WM in Katar ¬– übrigens dem Ort wo just die Münchner Kicker gerne ihre dann gar nicht bunten Trainingszelte aufschlagen. Da braucht’s dann schon a bisserl mehr, wenn man glaubhaft seine Werte verteidigen will. Aber es steht zu befürchten, dass die Profi-Verdreher sich bis dahin eine mehrheitsfähige Strategie zurechtschmirgeln, mit der sie sich ihre Wahrnehmung von Menschenrechten im Einklang mit dem „Respekt“ vor dem Gastgeberland zurechtkuscheln.
Bis dahin sollte das Wort des Münchner Jungspolitikers Alexander Rulitschka gelten: „EM ist nicht auf die Knie gehen, mit Gleitschirmen in Stadien eindringen, oder gar ganze Regenbogenstadien. EM ist ein friedliches Sportereignis, in dem sich die Nationalmannschaften fair miteinander messen. Sie sollte es auch bleiben dürfen und nicht zum Zirkus für politische Aktivisten jeder Art werden.“ Auch Bundestrainer Löw sei in diesem Kontext zitiert: „Man muss über das Thema nicht so viel reden, sondern es leben.“ Genauso ist es! Und wer das tut, braucht vielleicht auch kein überbordendes Sendungsbewusstsein bezüglich der eigenen Haltung.
In diesem Sinne: Wer Fußball-Fan sein will, muss dafür nicht politisch sein. Und er muss erst Recht keine bestimmte politische Agenda (und nur die!) unterstützen. Jeder möge selbst für sich entscheiden, wann und wo er seine Meinung kundtut – nicht sein Heimatverein, nicht seine Stadt und nicht seine Nationalmannschaft. Und ich für meinen Teil sage: Ja zum Regenbogen, nein zur politischen Vereinnahmung meines geliebten Sports!
Bildquelle:
- Regenbogenfarben: dpa